Was macht man in einem Raum mit zehn aufgehängten Bildschirmen, die alle etwas anderes zeigen? Die Orientierung verlieren oder den Begleittext suchen? Ich entscheide mich in Heba Y. Amins Einzelausstellung „Fruit from Saturn“ für die zweite Möglichkeit, obwohl der Titel (der zitiert einen 1946 erschienenen Gedichtband des deutsch-französischen Lyrikers Yvan Goll) schon irgendwie etwas spaciges, fiction-artiges auslöst, dass ich aber momentan noch nicht greifen kann. Die in Kairo geborene, in Berlin lebende Künstlerin ist bekannt für ihre wohlrecherchierten artifiziellen Attacken gegen Neokolonialismus und staatliche Repression.
Da steht es also: die Multichannel-Videoinstallation „Speak2Tweet“ ist eine Sammlung von Sprachnachrichten während der Unruhen in Ägypten im Frühling 2011 nach der landesweiten Abschaltung des Internets durch den Diktator Hosni Mubarak. Die wurden von pfiffigen Nerds auf Twitter veröffentlicht.Heba Y. Amin hat sie gesammelt und mit Videos von Gebäuden und Straßenszenen zu kurzen Gedichten über Ägypten modifiziert, die klingende Namen wie „Ich bin der Sohn des Nils“ (2:13 Min) oder einfach nur „Der Gecko“ (2:39 Min) tragen. Aber die überaus politisch emotional arbeitende Künstlerin zeigt im Solinger Zentrum für verfolgte Künste auch die Wiederentdeckung von Menschen und Errungenschaften, die trotz der Allgegenwärtigkeit von Datenbänken aller Art im Dunkel der Zeit zu verschwinden drohten, wenn sie nicht jemand sichtbar werden ließe. So passiert das in der Ausstellung, die mit einem von der Künstlerin selbst vorgelesenen Gedicht von Yvan Goll (1881-1950) in der Eingangshalle eingeführt wird, mitIbn al-Haytham, dem völlig vergessenen ägyptischen Optiker aus dem 11. Jahrhundert, dessen Illustrationen seines wegweisenden Textes „Kitab al-Manazit“ (Buch der Optik) einer Reihe von Wandskulpturen der Künstlerin zugrunde liegt, die seine wunderschönen Diagramme von Vision und Optik in monströser Form aus Metall gebogen hat und so Haytham zusätzlich wieder ins rechte Licht setzt.
Heba Y. Amin, die auf der letzten Berlin Biennale schon das Mittelmeer umlenken wollte, zeigt in der unteren Etage mit künstlerischer Präzision und spitzem Finger auf eine kleine weiße Pyramide mitten in der ägyptischen Wüste, die bis heute ein Symbol deutscher Unverdrossenheit geblieben ist, einen als Helden stilisierten Nazischergen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, der verherrlichende Kriegsschinken „Stern von Afrika“ von 1957 mit damaliger deutscher Starbesetzung plus Roberto Blanco als Nebenrolle Mathias. In Solingen steht eine originalgroße Kopie dieser Gedenkpyramide für den Nazi-Piloten Hans-Joachim Marseille, die so wohl während der deutschen Wiedervereinigung von derdeutschen „Gemeinschaft der Jagdflieger" an der Stelle, wo das As ohne funktionierenden Falschschirm aufschlug, aufgebaut und wohl auch bis heute gepflegt wird. Ein parallel laufendes Video („Der Garten des Teufels“, 12:33 Min) zeigt, wie die dort heimische Bevölkerung damit umgeht, die oft den Namen, nicht aber die Zusammenhänge kennt und den pyramidalen Grabstein als Touristenzielpunkt nutzt. Einige Fragen im Dunstkreis der Pyramide sind fürHeba Y. Amin aber noch nicht geklärt.
Heba Y. Amin: Fruit from Saturn | bis 2.2. | Zentrum für verfolgte Künste Solingen | 0212 25 81 40
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Auf den Spuren von Prinz Jussuf von Theben
Sieben Künstler auf der Suche nach Heimat – kunst & gut 08/19
Blau ist eine tiefe Farbe
Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller im Zentrum für verfolgte Künste – Literatur 03/19
Widerstand mit Stift und Kamera
Ausstellungseröffnung von „Das Nazi Phantom“ und „R like Resistance“ im Zentrum für verfolgte Künste in Solingen – Kunst 01/19
Blick auf den Einzelnen
Werner Scholz im „Zentrum für verfolgte Künste“ im Kunstmuseum Solingen – kunst & gut 01/18
14 aus 51
Jubiläumausstellung im Skulpturenpark Waldfrieden – Kunst 09/23
Bildzeichen zur Zeit
Johannes Wohnseifer im Neuen Kunstverein Wuppertal – kunst & gut 09/23
„Picasso und Beckmann standen im Zentrum der Debatte über Malerei“
Direktor Roland Mönig über die neue Ausstellung im Von der Heydt-Museum – Sammlung 09/23
Clemens Weiss im Osthaus Museum
„Green Bridge. Skulpturen“ in Hagen – kunst & gut 08/23
Bella Figura
„Figur!“ im Skulpturenpark Waldfrieden – kunst & gut 07/23
Leben ins Museum
Neue Sammlungspräsentation des MO im Dortmunder U – kunst & gut 06/23
Poetische Energie
Franziska Holstein im Von der Heydt-Museum – kunst & gut 05/23
Aus der Dingwelt
Jaana Caspary im Skulpturenpark Waldfrieden – kunst & gut 04/23
Ein Star unter den Fotografierten
Max Ernst auf Fotografien in seinem Museum in Brühl – kunst & gut 03/23
Gegenwart der Traditionen
„Horizonte“ im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln – kunst & gut 02/23
Diskreter Charme von Rhein und Ruhr
Jenseits von 99 Luftballons: Hanns Friedrichs in Hagen
– kunst & gut 01/23
Exo-Dimensionen der Sichtweise
Andreas Schmitten im Skulpturenpark Waldfrieden
– kunst & gut 12/22
Todfeinde der Malerei
„Eine neue Kunst. Fotografie und Impressionismus“ in Wuppertal
– kunst & gut 11/22
Vom Umgang mit Kolonialkunst
Auftakt der Ringvorlesung „Res(t)ituieren“ im Kubus – Kunst 10/22
Rituelles Blutrot auf formlosen Formen
Anish Kapoor im Skulpturenpark Waldfrieden
– kunst & gut 10/22
Die Schönheit der verhüllten Welt
Christo und Jeanne-Claude im Museum Kunstpalast Düsseldorf – Kunstwandel 10/22
Visionen zwischen Schein und Wirklichkeit
Zwei unterschiedliche Künstlerinnen im Osthaus-Museum
– kunst & gut 09/22
Seine Figuren erzählen keine Geschichten
„Metamorphosen des Körpers“ im Von der Heydt-Museum
– kunst & gut 08/22
Artifizielles Müllrecycling mitten im Wald
„Unklumpen“ im Skulpturenpark Waldfrieden
– kunst & gut 07/22
Als sich die Abstraktion erst mal in Luft auflöste
„Zero, Pop und Minimal“ im Von der Heydt Museum
– kunst & gut 05/22
Wenn der Zucker macht, was er will
Markus Heinzelmann über„Die Kraft des Staunens / The Power of Wonder“ – Sammlung 05/22