Kleinod im Bergischen Land: Das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen empfängt immer wieder hochkarätige Gäste. An diesem, von Schauern und Sturmwarnungen geplagten Sonntage, war wieder eine der ganz Großen im Haus zugegen: Herta Müller. Die Literaturnobelpreisträgerin eröffnete unter starkem Publikumsandrang ihre Ausstellung „Im Heimweh ist ein blauer Saal“. Weil die bereitgestellten Stühle schon frühzeitig belegt waren, musste in einem zweiten Raum eine Leinwand mit Live-Übertragung angebracht werden. „Aber das ist ja toll, wenn man raus geht und sagt: Da war mehr los, als das Haus verkraften kann!“ freut sich Museumsdirektor Dr. Rolf Jessewitsch. Kein Wunder, bei Inhalt und Person, die dieses Mal ins Zentrum locken.
Die in Rumänien geborene Schriftstellerin stellt ihr neues Buch vor. Diesmal ist auf den Seiten jedoch mehr als reiner Text zu finden: Lyrik und Kunst gehen Hand in Hand auf 220 Collagen, die die Künstlerin in jahrelanger Arbeit erstellt hat. Wörter aus Zeitungen, Zeitschriften und anderen Printerzeugnissen hat Müller ausgeschnitten, akribisch in Schubladen sortiert und schließlich zu neuen Gebilden zusammengesetzt. Die Besonderheit hierbei sei der haptische Umgang mit jedem einzelnen Wort gewesen.
Ob Essay, Belletristik oder Pendant zum Bildmotiv – immer wieder schimmert ein dichterischer Ton durch Müllers Werk: „Die Reime sind nicht das Gerüst oder die Fassade der Collagen, sondern vielmehr Ankerpunkte oder Gegengewichte“, betont der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert, der auch schon Müllers Laudator bei ihrer Auszeichnung mit „Der schärfsten Klinge“ sowie Hauptredner bei der Einführung des Zentrums war. „Abstrakte Begriffe wie Demokratie oder Diktatur tauchen in ihrem Werk nicht auf“, so Lammert weiter. „Und das macht Sinn: Denn sie laufen immer Gefahr, zu einer Standardisierung zu werden. Lebensschicksale sind aber konkret.“ Stattdessen würden Motive wie Heimat, Koffer, Grenze, Land und Zeit immer wiederkehren und die Grundtonart der Melancholie unterstreichen. Aber auch für ihren Humor schätzt Lammert die Literaturnobelpreisträgerin: „ ,Ich spüre jeden Satz ins kalte Wasser treten’ – dieses Zitat gilt wohl für alle Redner!“
Müller hatte in ihrer Heimat selbst Verfolgung erfahren und engagierte sich seit 1994 für die Gründung des Zentrums. So tragen ihre „Wortkunstgebilde“ wie „Heimwehgift“ und „Das Land hängt sich an mich wie eine Klette“ auch autobiographische Züge. Einen Auszug trägt die Künstlerin dann auch selbst vor – und bewegt. Zum Nachdenken und zum Schmunzeln.
Die Originale der Collagen hängen in den bunt gestrichenen Räumen des Zentrums aus – unter anderem im Blauen Saal. „Blau ist eine Farbe des Strebens, der Selbsteinsicht und der Sehnsucht“ erklärt die stellvertretende LVR-Vorsitzende Karin Schmitt-Promny und nimmt ihr Publikum mit zu einem Exkurs in die Kunstgeschichte. Und sie weist auf die Parallele zu Else Lasker-Schüler hin: „Auch Herta Müller legt sich nicht fest. Bei ihr verschmelzen Bild und Wort.“ Das sei geradezu prädestiniert für ein Haus, das „nicht nur Kunst, sondern die Künste“ zeige. Und Schmitt-Promny stellt den internationalen Charakter des Zentrums heraus. Besonders in diesen Zeiten sei europäische Zusammenarbeit umso wichtiger. Deswegen freue es sie, dass die Ausstellung nach dem Auftakt im Bergischen auch im MOCAK in Krakau zu sehen sein wird. Und Oberbürgermeister Tim Kurzbach betont, die Dankbarkeit und den Stolz Solingens auf diesen „einzigartigen Ort“. Das Zentrum gebe zeitgenössischen KünstlerInnen eine Zuflucht, ihr Talent auszudrücken und biete ihnen die Möglichkeit endlich Geltung für ihre Arbeit zu bekommen. Eine Herzensangelegenheit auch für Herta Müller. Großen Beifall erntet sie für ihren Vortrag, für ihr Plädoyer für Freiheit, für Humanismus, für ein Spiel mit Worten, das sie beherrscht wie nur wenige.
Denn Blau ist eine tiefe Farbe.
„Im Heimweh ist ein blauer Saal“ | 10.3-9.6.2019 | Di-So 10-17 Uhr | Zentrum für verfolgte Künste | Wuppertaler Straße 160 | www.verfolgte-kuenste.de
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