In erster Linie zog den alten Mann der Titel der Ausstellung „Journey Through A Body“ an. Entsetzte Fetzen an die späten 1970er wehten durch die Gehirnwindungen und aus den Tiefen der Erinnerung tauchten die Throbbing Gristle auf, Zerstörer der Zivilisation und Genesis Breyer P-Orridge, der im letzten Jahr gestorben ist und vielleicht deshalb die Assoziation so schnell transportierte. Sein Credo von Dekonditionierung jedenfalls durchzieht die Ausstellung von sechs Künstler*innen (schon diese zeitgenössische Bezeichnung ist falsch) in der Kunsthalle Düsseldorf wie ein unsichtbares Myzel und auf den zweiten Blick hat er es auch (zurecht) in den aufwändigen, klugen und visuell schönen Katalog der Kunsthalle geschafft.
Inbesondere bei Cajsa von Zeipels „X plus X equals x“ (mixed media zwischen Zahnprothesen und Aquarienröhren, 2021) könnten auch Genesis and Lady Jaye ihre maximale sinnliche Zukunft gesehen haben. Zwei kopulierende geschlechtsundeutige Cyborgs, die sich um eine Edelstahl-Stripstange drehen und Körperflüssigkeiten austauschen. Die Leere im Raum und die Lautlosigkeit verstärken das Unbehagen, das bei Cajsa von Zeipels Skulpturen immer mitschwingt, die immer perfekter in Wesen und Ausdruck werden, manche Schlauchverbindungen vom Stöckel zum Gegenüber scheinen undurchführbar, die Infusionstropfer über ihnen machen das nicht besser.
Kate Cooper im Raum gegenüber dekonstruiert gleich die Realität mit. In „Infection Drivers“ (Video, 2018) sieht man einen weiblichen Körper im Kampf mit seiner aufgeblasenen Aura. Durchsichtig wie ein aufgeblasener Anzug wehrt sich der immer mehr oder weniger sexualisierte Avatar gegen Verletzungen, aber auch gegen unsichtbare Raumgrenzen. Auch das virtuelle Leben könnte in der Zukunft also Schutzräume benötigen: Wenn man die Gewalt anschaut, die der Körper dort auf dem Screen ausgesetzt ist, ziemlich plausibel.
Nicole Ruggieros „How the Internet changed my live“ (2021) zeigt, wie Nähe im Internet neu definiert werden muss und ob so etwas wie Nähe überhaupt generiert werden kann. Die Foto-Installation ist über einen Laptop interaktiv, die VR-Brille ins Internet hat technische Probleme, was die Möglichkeiten der elektronischen Welterweiterung doch ziemlich einschränkt. Weiter geht es an einer Wand voller alternativer Körperfantasien von Christina Quarles zwischen „trans“ und „queer“. Eine Etage höher: Als schwarze Amerikanerin fragt sich Tschabalala Self in bunten Plexiglas-Skulpuren, Trompe-l’œil-Stoff-Effekt-Bildern und einem stummen sexualisierten Schnellschnitt-Video „My black ass“ (2018) wie Körper wahrgenommen werden und sein sollten. Die in der Mitte des Raumes hängenden Beine mit Stöckelschuhen sind da dann eher als ironische Metapher zu deuten.
„The kids are alright“ (2021) schreibt Luki von der Gracht mit Tusche auf eine Leinwand. Da ist der Rundgang fast beendet, doch als letztes Statement in einer Ausstellung über das frei und selbst gewählte Selbst passt die The Who-Attitüde vom Album „My Generation“ perfekt: „But I know sometimes I must get out in the light“, heißt es da, und an einen Weg ins beleuchtete Internet dachte da noch niemand, Identität und Geschlechtszugehörigkeit galt es zu unterdrücken. Sind wir echt viel weitergekommen?
Journey Through A Body | bis 1.8. | Kunsthalle Düsseldorf | 0211 899 62 43
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