Ein TV-Interview von Richard David Precht mit Sahra Wagenknecht 2015 brachte den Widerspruch von Philosophie und Politik auf den Punkt: Für Wagenknecht steht die Utopie am Ende einer Entwicklung vieler kleiner Maßnahmen. Precht meint, die Utopie muss der Ausgangspunkt jeder tiefgreifenden, gesellschaftlichen Veränderung sein. Aber wie gelangen wir zu Utopien, die nichts anderes als Antworten auf die Frage sind: Wie wollen wir leben?
Mitte des 19. Jahrhunderts erdachte Karl Marx so eine Utopie: den Kommunismus. Die Versuche praktischer Umsetzung, ob ernst gemeint oder ideologisch instrumentalisiert, können nur als brutal gescheitert gesehen werden. Für dieses Scheitern konnte Marx nichts, viele andere Entwicklungen hat er prophetisch vorhergesagt. Das verelendete Proletariat haben wir im Zuge der Globalisierung in die Textilfabriken, Bergwerke oder Minen Asiens und Afrikas ausgelagert. Konzerne wie Nestlé, Google oder Facebook konzentrieren Macht und Reichtum in nie gekanntem Maße und die Krisenanfälligkeit unserer Wirtschaft ist seit 2007 keine Propaganda einer irren Kommunisten-Kassandra mehr, sondern Realität.
Kann uns Marx bei der Gestaltung unserer Zukunft behilflich sein? Tatsächlich könnte die Digitalisierung die Überwindung der arbeitsteiligen Gesellschaft bedeuten, das Ende der Lohnarbeit und der Trennung in eine herrschende, weil über die Produktionsmittel verfügende Klasse und eine beherrschte, über die Produktivkraft verfügende Klasse. Harald Welzer und Precht beschäftigen sich beide mit der digitalen Revolution und deren –nach Perspektive – utopischen bis dystopischen Folgen. Welzer skizziert in seinem Buch „Die smarte Diktatur“ (2016) das Digitale als Triebkraft, die den Kapitalismus in neue Extreme führen wird. Precht identifiziert im Digitalen eine Chance zur Überwindung des Kapitalismus. Er malt sich flexible Start-Upper aus, die in einem Café vor dem Laptop sitzen und Latte Macchiato süppelnd Aufträge abarbeiten, während die Kinder zu ihren Füßen wuseln. Zwischen Welzers versklavtem Digital-Prekariat und Prechts Digital-Bohème liegt der Raum, den Menschen, nicht Maschinen künftig gestalten müssen.
In Zukunft könnte uns so entfremdete, gesundheitsschädliche Arbeit erspart bleiben und Automatisierung würde weniger Arbeitszeit bedeuten. Marx modern frisiert könnten wir morgens Schwimmen gehen, mittags ein paar Kinder oder Senior*innen bespaßen und abends Netflix bingewatchen. Nicht einmal Optimist Precht glaubt aber, dass es bald so rosig kommt. Die von Marx prognostizierte Entkopplung von Produktionsmitteln und Produktivkraft vollzieht sich im Digitalen derzeit nicht. Monopole besitzen das technische Knowhow oder die Mittel, es sich zu beschaffen. Die Automatisierung könnte bis zu 50 % der Menschen in den westlichen Industrienationen arbeitslos machen und ihnen die Herrschaft über die eigene Produktivkraft als Druckmittel für Streiks nehmen. Alternativen zur klassischen Lohnarbeit wie das Bedingungslose Grundeinkommen sind umstritten. Abseits sozialer Fragen benötigt das Digitale außerdem in der ollen Analogwelt immens viel Energie, Smartphones wie Laptops werden mit endlichen Rohstoffen produziert. Konzept und Wille fehlen bisher, die Digitalisierung zum Wohle aller zu modellieren, so dass sie in der kapitalistischen Tradition höher, weiter, schneller verankert bleibt.
Marx hat nach den gescheiterten Erhebungen 1848 nicht mehr an eine Revolution geglaubt. Aber die dem Kapitalismus eingeschriebene Maxime stetigen Wachstums könnte nun sein Ende besiegeln. In einer endlichen Welt und Jahrhunderte von der Kolonisation fremder Planeten entfernt, ist nämlich rein naturgesetzlich irgendwann Schluss mit Wachstum. Nur, was kommt dann? Im kleinen Maßstab werden Ansätze wie Kreislaufwirtschaft, Postwachstum oder neue Arbeitsmodelle jenseits von Lohnarbeit und Privateigentum erprobt. Virtuell könnten Open-Source-Projekte oder das dezentrale, ohne Banken und Börsen auskommende Prinzip der Blockchain alles verändern. Ob das zu einer Revolution führt, weiß heute niemand. Ulrike Herrmann, taz-Wirtschaftsexpertin und Autorin von „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“, sieht zwar keinen neuen Marx kommen, der eine Idee für die Reorganisation einer postkapitalistischen Welt(wirtschaft) hätte. Im WDR 5 vertrat sie trotzdem unlängst die These: „Der Kapitalismus wird enden. Die Frage ist nur, ob er chaotisch endet oder friedlich in ein anderes System überführt werden kann“.
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