engels: Frau Prinzing, „den Medien“ wird vorgeworfen, die tatsächliche Meinungsvielfalt nicht widerzuspiegeln. Was sagt die Forschung zu diesem Eindruck?
Marlis Prinzing:Es handelt sich um unterschiedliche, sich teilweise überlagernde Beobachtungen. Die Medienvielfalt in Deutschland und international hat sich als Folge der Medienkonzentration massiv reduziert – und zwar gemäß der aktuellen Medienkonzentrationsforschung insbesondere im Regional- und Lokalbereich; es gibt Regionen, in denen eine Informationsabdeckung mit professionellen Kriterien folgendem Journalismus schwierig geworden ist. Hier für Rahmenbedingungen Sorge zu tragen, die gewährleisten, dass die Bürgerinnen und Bürger sich beispielsweise vor Kommunalwahlen gut über die Kandidierenden informieren können, ist auch ein Auftrag an die Politik – wohlgemerkt: bezogen auf die Bedingungen und ohne Einfluss auf Inhalte. Es gibt weiterhin hervorragenden Journalismus, der durch die digitale Entwicklung auch sehr gut zugänglich ist. Hier gilt es aber ebenfalls, Rahmenbedingungen zu schaffen oder zu erhalten, damit er eine gesicherte finanzielle Grundlage hat.
Das schließt auch die Aufgabe ein, Menschen die Fähigkeit zu vermitteln, professionellen Journalismus von beliebigen, oft ungeprüften Veröffentlichungen zu unterscheiden, und damit das Bewusstsein zu stärken, dass diese professionelle Leistung viel wert ist und es sich lohnt, für sie zu bezahlen. Die in diesem Aspekt steckende, seit ewigen Zeiten beschworene zu geringe Medienkompetenz ist aus meiner Sicht auch der Schlüssel zur Frage nach einer Verengung von Weltanschauungen. Diese Verengung sehe ich nicht, wenn ich die aktuelle Vielfalt der Angebote betrachte, aber durchaus, wenn man sich manchen persönlichen Medien-Cocktail ansieht. Diesen stellen sich Menschen nicht selten auch deshalb so zusammen, weil ihnen eben die Kriterien nicht präsent sind, die einen vertrauenswürdigen und damit professionellen Journalismus ausmachen. Schließlich: Der Wert der Medienvielfalt besteht auch darin, sich einen individuellen Medien-Cocktail zusammenstellen zu können. Denn die News-Bias-Forschung belegt, dass ein Bias, also eine gewisse Gewichtung oder Blickrichtung in der Medienberichterstattung, nahezu unvermeidlich ist, auch in der professionell gemachten. Dieser lässt sich am besten ausgleichen, indem man mehrere Medien konsumiert.
„Eine Neutralitätspflicht gibt es nicht“
Verbreitet ist die Forderung nach „neutraler Berichterstattung“. Gibt es eine Neutralitätspflicht?
Nein, eine rechtliche Neutralitätspflicht gibt es nicht. Medien dürfen durchaus positioniert sein. Viele Medien, insbesondere öffentlich-rechtliche, sehen allerdings einen Qualitätsanspruch darin, sachgerecht abzubilden, was relevant ist, verpflichten sich also einem Binnenpluralismus. Journalismus ist ein Beruf und richtet sich als solcher an einem Kompass aus, einer Berufsethik. Sie stützt sich auf ethische Traditionen aufgeklärter Gesellschaften, also unter anderem auf pflichtethische, folgenethische und diskursethische Prinzipien. Übertragen auf spezielle journalistische Arbeitsbereiche und niedergelegt sind diese unter anderem in den Richtlinien des Deutschen Presserats, also im Pressekodex. Es gibt zudem in verschiedenen Medienhäusern Präzisierungen in Form weiterer Statuten oder Richtlinien; fast alle Länder kennen solche Orientierungswerke. Es handelt sich um Empfehlungen, also um Gebote. Die Ethik beschreibt stets das Feld des gebotenen Handelns, die roten Linien des Verbotenen fallen in den Bereich des Rechts. Kodex-Richtlinien, zum Beispiel für ein wahrheitsgetreues, sorgfältiges, nicht auf Sensationssteigerung ausgerichtetes journalistisches Handeln, markieren das Prinzip der Ausgewogenheit.
Sind Ausgewogenheit, Objektivität und Neutralität gleichbedeutende Begriffe?
Nein. Zugleich sind es schwierige Begriffe geworden, weil ein gemeinsames Verständnis fehlt. Ausgewogenheit bedarf, ergänzend zu dem gerade Beschriebenen, des Zusatzes „sachgerecht“. Ein Beispiel: Wer die Position eines Klimawandel-Leugners der eines Klimaforschers, der Folgen von Erderwärmung aufzeigt, eins zu eins gegenüberstellt, der erzeugt beim Publikum den – falschen – Eindruck, beides sei gleichgewichtig oder gleich wahrscheinlich, obwohl hinter der Forschungsposition weit über 90 Prozent der Belege stehen; bewirkt wird also de facto eine „false balance“. „Sachgerecht ausgewogen“ hingegen verlangt etwa zu benennen, dass die eine Position eine Minderheitenposition ist, hier also keineswegs ein 50:50 vorliegt. „Neutral" oder „objektiv" können nie als absolut gesetzt werden. Völlig neutral oder objektiv ist so plausibel wie die Erwartung, man begegne im Wald einem Einhorn. Aber man kann erwarten, dass Journalismus fair vorgeht und die verschiedenen relevanten Positionen zu einem Thema vorträgt. Und dass er trennt zwischen Bericht und Kommentar, also zwischen einer auf den Sachverhalt und einer auf die Meinung zum Sachverhalt bezogenen Darstellung. Beides sind klassische und wichtige Formen. Ein Kommentar ist im übrigen ein Argumentationsangebot an das Publikum, denn Journalisten präsentieren hier ihre Pro- und Contra-Argumente zu einem Thema – dem Publikum steht frei, etwa das Contra-Argument als solches zu teilen oder aber dieses selbst als Pro-Argument zu werten.
„Sich nur an der eigenen Einstellung auszurichten, ist unprofessionell“
Wie viel Haltung ist im Journalismus erlaubt?
Auch „Haltungsjournalismus“ ist kein klar umrissener Begriff. Versteht man darunter eine journalistische Arbeitsweise, die sich nur an der eigenen Einstellung zu einem Thema ausrichtet und anderes Relevantes ausgeklammert, ist das unprofessionell, also Haltungsjournalismus im negativen Sinn. Ein unkritischer und freiwilliger Schulterschluss mancher Journalisten mit allem, was die Regierung eines angegriffenen Landes entscheidet, würde mir demzufolge Unbehagen bereiten. Grundsätzliche Solidarität mit einem Land zu zeigen, in das ein anderes völkerrechtswidrig einmarschiert ist, würde hingegen eine Haltung im positiven Sinne markieren. Es kommt also auf die Differenzierung an und darauf, dass sich Solidarität auf Grundprinzipien bezieht. Dazu gehören insbesondere die Menschenrechte.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) steht oft im Zentrum der Kritik. Kommt ihm eine Sonderrolle zu?
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat einen Leistungsauftrag, der Information, Bildung und Unterhaltung umfasst; er ist dazu verpflichtet, diesen zu erfüllen. Viele privat finanzierte Medien folgen diesem Auftrag freiwillig und erbringen damit ebenfalls eine öffentliche Dienstleistung (Public Service), die einen Wert für die Gesellschaft (Public Value) schafft. Der Informationsauftrag des ÖRR beispielsweise schließt aber – wie auch bei den Privaten – nicht aus, Kommentare zu publizieren, in denen Journalisten Position beziehen. Das müsste meiner Ansicht nach immer wieder erklärt werden.
Mit welchen eigenen Fehlern befeuert der ÖRR gegen ihn gerichtete Kritik?
Mit zu wenig Transparenz und Dialog mit dem Publikum, bei dem eben erklärt wird, warum auf eine bestimmte Art und Weise berichtet wird und was die Aufgabe von Journalismus ist. In vielen Redaktionen und auch in den Führungsetagen ist hier mittlerweile deutlich ein Umdenken spürbar und auch bereits in konkretes Handeln umgesetzt. Aber es bleibt Luft nach oben.
„Das wäre ein Eingriff in die innere Pressefreiheit“
Private Medien haben in der Regel eine politische Tendenz – Zeitungsleser wussten, die FAZ ist eher konservativ, die taz eher links. Ist das Verständnis dafür geschwunden?
Auch das gehört zu den Themen, die dem Publikum einfach immer wieder neu erklärt werden sollten: Was ist eine Blattlinie? Esist durchaus vorgesehen, dass Verleger ihrem Medium eine bestimmte Grundlinie vorgeben können. Durch den Gaza-Krieg ist zum Beispiel recht bekannt geworden, dass Axel Springer den Medien, die unter seinem Dach veröffentlicht werden, die Linie vorgegeben hat, dass das Existenzrecht des Staates Israels nicht in Frage gestellt werden darf. Das kann man machen, das fällt unter den sogenannten Tendenzschutz. Das heißt aber nicht, dass ein Verleger daraus das Recht ableiten könnte, sich jeden einzelnen Kommentar vorlegen zu lassen und jede Kritik am Verhalten oder an einer Entscheidung der israelischen Regierung verbieten lassen könnte. Das wären Eingriffe in die sogenannte innere Pressefreiheit.
Bei privaten Unternehmen haben Firmeneigner, Verleger oder Chefredakteure potentiell großen Einfluss. Wie groß ist er?
Das kann man nicht beziffern und man muss im Grunde auch, je nachdem, wer Einfluss nehmen will, eine andere Antwort geben. Gegen Einflussnahmen von außen – wenn zum Beispiel ein Pharma-unternehmen mit Vergünstigungen lockt, um eine ihm gewogene Berichterstattung zu erzielen – müssen sich Medienhäuser, Redaktionen bzw. Redaktionsleitungen verwehren, auch ihrer Glaubwürdigkeit wegen; das wird zudem im Pressekodex, der ein Kompass für verantwortungsbewusstes Handeln ist, in Richtlinie 15 ausdrücklich formuliert. Kritisch und unabhängig zu berichten, ist ein durch die äußere Pressefreiheit geschützter Auftrag an Journalismus. Bei internen Einflussnahmen muss man unterscheiden zwischen den exemplarisch bereits beschriebenen Gefährdungen für die innere Pressefreiheit etwa dann, wenn ein Verleger über den Tendenzschutz hinaus auf redaktionelle Entscheidungen und Inhalte Einfluss nehmen will, und Vorgaben, die Chefredakteurinnen im Rahmen ihrer Führungsaufgabe geben. Anweisungen, aus Krisengebieten keine frontalen Fotos von Kriegsopfern zu veröffentlichen, sind ihrer Verantwortung als Führungskräfte zurechenbar und kein Eingriff in die innere Pressefreiheit. Anders ist es natürlich, wenn Macht missbraucht wird, etwa wenn eine Führungskraft nach der Devise vorgeht, „Reportage-Themen bekommt nur, wer sich auch auf meine Couch legt“; das ist durch nichts zu rechtfertigen.
„Das Gefühl, ein Großteil der Berichterstattung dreht sich um Themen, die mit dem Alltag wenig zu tun haben“
Der abfällige Begriff „Mainstream-Medien“ meint einen als zu eng empfundenen Meinungskorridor. Welche Rolle spielt hier die Erwartungshaltung des Publikums?
Ein Publikum ist ja nie eine homogene Gruppe, in der alle dieselben Vorstellungen haben. Dementsprechend wirkt Berichterstattung auf Menschen unterschiedlich. Solche Effekte untersucht die Publikumsforschung seit vielen Jahren. Zum Beispiel beschreibt der „hostile media effect“, dass Menschen, die entschieden eine bestimmte Position zu einem Thema vertreten, die mediale Darstellung oftmals als einseitig und zu ihren Ungunsten verzerrt wahrnehmen, während andere, die nicht so sehr positioniert sind, die Berichterstattung als angemessen empfinden. Dagegen lässt sich wenig machen. Aber auf einen anderen Punkt könnten Redaktionen noch stärker eingehen und reagieren als bislang: Ein erheblicher Teil der Menschen hat das Gefühl, ein Großteil der Berichterstattung drehe sich um Themen, die mit ihrer Lebensumwelt und ihrem Alltag wenig zu tun haben. Das wissen wir beispielsweise aus den Mainzer Langzeitstudien zum Medienvertrauen. Daraus lässt sich als Auftrag ableiten, dass Journalisten mehr zu den Menschen hingehen und hinhören sollten, was sie umtreibt. Und an mancher Stelle unterstützt wiederum das Erklären: Wenn ein Journalist eine Partei X wählt, dann heißt dies nicht, dass er nur die Sichtweisen von Partei X in seiner Berichterstattung vertritt, sondern er arbeitet dann professionell, wenn er in seinem Beitrag das Publikum über die unterschiedlichen Sichtweisen der Parteien X, Y und Z auf ein bestimmtes Thema informiert.
Wie wirken sich die Vorwürfe gegen die Presse aus? Oft geht es offenbar darum, etablierte Medien zu delegitimieren.
So etwas bleibt nie folgenlos. Umso bedeutsamer ist es, dass Politiker, Bürger und Bürgerinnen sowie Medienschaffende unermüdlich klar machen, wie unersetzlich verantwortungsbewusster Journalismus und damit jene Medien, die diesen hochhalten, sind: für unser gesellschaftliches Zusammenleben, für unsere Selbstbestimmtheit, für unsere Demokratie. Es ist kein Zufall, dass autokratische Regierungsspitzen – Ungarn und die USA seien als Beispiele unter vielen herausgegriffen – zuallererst den ihre Umtriebe kritisch beobachtenden Journalismus unter Druck setzen und angreifen; ähnlich agieren Parteien, die z.B. eine sachgerechte, toleranzorientierte Berichterstattung delegitimieren wollen. Dies sind Warnsignale, die wir nicht überhören sollten.
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Branchenprobleme
Intro – Gut informiert
Journalismus im Teufelskreis
Teil 1: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst
„Nicht das Verteilen von Papier, sondern Journalismus fördern“
Teil 1: Interview – Der Geschäftsführer des DJV-NRW über die wirtschaftliche Krise des Journalismus
Pakt mit dem Fakt
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Zentrum für Erzählforschung an der Uni Wuppertal
Teuer errungen
Teil 2: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
„Die Sender sind immer politisch beeinflusst“
Teil 2: Interview – Medienforscher Christoph Classen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Aus den Regionen
Teil 2: Lokale Initiativen – Das WDR-Landesstudio Köln
An den wahren Problemen vorbei
Teil 3: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen
Von lokal bis viral
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Landesanstalt für Medien NRW fördert Medienvielfalt
Nicht mit Rechten reden
Der „cordon sanitaire médiatique“ gibt rechten Parteien keine Bühne – Europa-Vorbild Wallonien
Der Vogelschiss der Stammesgeschichte
Wenn Menschenrechte gleich Lügenpresse sind – Glosse
„Radikalisierung beginnt mit Ungerechtigkeitsgefühlen“
Teil 1: Interview – Sozialpsychologe Andreas Zick über den Rechtsruck der gesellschaftlichen Mitte
„Man hat die demokratischen Jugendlichen nicht beachtet“
Teil 2: Interview – Rechtsextremismus-Experte Michael Nattke über die Radikalisierung von Jugendlichen
„Die Chancen eines Verbotsverfahren sind relativ gut“
Teil 3: Interview – Rechtsextremismus-Forscher Rolf Frankenberger über ein mögliches Verbot der AfD
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 1: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
„Klimakrisen sind nicht wegzureden“
Teil 2: Interview – Der Ökonom Patrick Velte über die Rückabwicklung von Nachhaltigkeitsregulierungen
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 3: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
„Das Gesundheitssystem wird unter Druck geraten“
Teil 1: Interview – Arzt Bernhard Winter über den Vorwurf einer Zweiklassenmedizin
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Teil 2: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
„Wo Regelmäßigkeit anfängt, sollte Nachbarschaftshilfe aufhören“
Teil 3: Interview – Architektin Ulrike Scherzer über Wohnen im Alter
„Egal wer die Brandmauer zerstört, wir werden ihn kritisieren“
Teil 1: Interview – Omas gegen Rechts: Jutta Shaikh über die Verteidigung der Demokratie
„Politik für das Gemeinwohl, nicht für Unternehmen“
Teil 2: Interview – Armutsforscher Christoph Butterwegge über die Umverteilung von Reichtum
„KI streikt nicht“
Teil 3: Interview – Informatiker und Philosoph Jürgen Geuter über künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt