Der Fall Claas Relotius erschütterte 2018 den deutschen Journalismus: Ein vielfach preisgekrönter Reporter hatte über Jahre hinweg Reportagen gefälscht – ausgerechnet beim Spiegel, der für strenge Faktenprüfung steht. Der Schaden war enorm: für das Magazin selbst und für die gesamte Branche, in der seitdem verstärkt Glaubwürdigkeit und Medienvertrauen diskutiert werden.
Denn Journalismus lebt vom sogenanntenFaktualitätspakt: dem unausgesprochenen Versprechen, dass das Erzählte wirklich geschehen ist. „Dass ein solcher Pakt besteht, erkennt man besonders deutlich dann, wenn er enttäuscht wird, etwa im Fall Relotius“, sagt Matías Martínez, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Gründungsdirektor des Zentrums für Erzählforschung (ZEF) an der Bergischen Universität Wuppertal. Das ZEF besteht seit 2006 und forschte anfangs vor allem zu fiktionalem Erzählen. Heute setzt es sich ebenso mit faktualem Erzählen auseinander, etwa mit den journalistischen Textsorten Nachricht, Bericht und Reportage.Anders als die Fiktion beansprucht faktuales Erzählen durchweg, auf die Wirklichkeit zu referieren. Kurz: Die Fakten müssen stimmen.
Versprechen: Wahrheit
Nicht nur Fälschungen, sondern auch ästhetische Gestaltungsmittel können zum Problem werden, etwa wenn Reportagen Gedanken oder Gefühle von Personen ohne Belege wiedergeben. „Solche Verfahren steigern die Wirkung und machen die Texte oft spannender, können aber die Grenze zum Fiktiven überschreiten“, warnt Martínez.
Besonders problematisch wird es, wenn Medien die Wirkung über die Wahrheit stellen. So leben Boulevardformate von Emotionalisierung und treffen dabei auf eine psychologische Grundstruktur: „Unsere Standardeinstellung ist, zunächst zu glauben, was man uns erzählt“, so Martínez. Inhalte, die Erwartungen bestätigen, erscheinen glaubwürdiger, auch wenn sie falsch sind. Umgekehrt: Wer überraschende oder unbequeme Wahrheiten berichtet, läuft Gefahr, als unglaubwürdig zu gelten. Vorsicht sei auch geboten bei der Nutzung Künstlicher Intelligenz im Journalismus. „Wenn wir irgendwann nur noch Texte lesen, die von KI stammen, wird das einen massiven Vertrauensverlust nach sich ziehen“, warnt Martínez.
Vertrauen zurückgewinnen
Wie lässt sich verlorenes Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnen? Martínez betont, dass hier Transparenz wichtig ist: „Ich vertraue Nachrichten besonders, wenn sie ihre Quellen offenlegen und idealerweise auch deren Glaubwürdigkeit einschätzen.“ Darüber hinaus schlägt er eine Stärkung der sogenanntenFaktualitätskompetenz vor, also der Fähigkeit, Texte kritisch zu reflektieren und zwischen glaubwürdiger und manipulativer Erzählweise zu unterscheiden. Solche Kompetenzen könnten etwa im Schulunterricht vermittelt werden. Besonders gut eigne sich dazu die Analyse von Fälschungen oder von Texten, die sowohl fiktional als auch faktual erzählen.
Vertrauensprobleme führen auch zu ökonomischen Schwierigkeiten: Sinkt die Glaubwürdigkeit, sinken die Abonnentenzahlen und mit ihnen die Mittel für Recherchen, was weitere Vertrauensverluste zur Folge haben kann – ein Teufelskreis. Einfache Lösungen sieht Martínez nicht: „Die Finanzierung ist ein altes Problem des Journalismus, das sich gerade noch einmal verschärft.“ Das gefährde auch die journalistische Unabhängigkeit: Geldgeber nutzen die Situation aus und nehmen redaktionellen Einfluss – wie etwa Jeff Bezos nach seiner Übernahme der Washington Post.
Journalismus erlebt eine unsichere Zeit. Gerade angesichts dessen braucht es Erzählformen, die transparent und überprüfbar sind. Und einen Journalismus, der sich an Fakten hält.
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Branchenprobleme
Intro – Gut informiert
Journalismus im Teufelskreis
Teil 1: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst
„Nicht das Verteilen von Papier, sondern Journalismus fördern“
Teil 1: Interview – Der Geschäftsführer des DJV-NRW über die wirtschaftliche Krise des Journalismus
Teuer errungen
Teil 2: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
„Die Sender sind immer politisch beeinflusst“
Teil 2: Interview – Medienforscher Christoph Classen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Aus den Regionen
Teil 2: Lokale Initiativen – Das WDR-Landesstudio Köln
An den wahren Problemen vorbei
Teil 3: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen
„Das Gefühl, Berichterstattung habe mit dem Alltag wenig zu tun“
Teil 3: Interview – Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing über Haltung und Objektivität im Journalismus
Von lokal bis viral
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Landesanstalt für Medien NRW fördert Medienvielfalt
Nicht mit Rechten reden
Der „cordon sanitaire médiatique“ gibt rechten Parteien keine Bühne – Europa-Vorbild Wallonien
Der Vogelschiss der Stammesgeschichte
Wenn Menschenrechte gleich Lügenpresse sind – Glosse
Nicht mit uns!
Teil 1: Lokale Initiativen – Das zivilgesellschaftliche Netzwerk Wuppertal stellt sich quer
Zwischen Krawall und Karneval
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Bereich Gegenwart im Kölner NS-Dok klärt über Rechtsextremismus auf
Antifaschismus für alle
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Bochumer Antifa-Treff
Für eine gerechte Energiewende
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
Von Autos befreit
Teil 2: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Unter Fledermäusen
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Verbunden für die Gesundheit
Teil 1: Lokale Initiativen – Wuppertals Selbsthilfe-Kontaktstelle unterstützt Bürgerengagement
Gesundheit ist Patientensache
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Gemeinsam statt einsam
Teil 3: Lokale Initiativen – Wohnen für Senior:innen bei der Baugenossenschaft Bochum
Als Bürger wahrgenommen werden
Teil 1: Lokale Initiativen – Lernbehinderte in der KoKoBe erheben ihre politische Stimme.
Jetzt erst recht
Teil 2: Lokale Initiativen – Parents for Future in Köln
Gegen digitalen Kolonialismus
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Chaospott Essen klärt über Technik und Datenschutz auf