Nicht oft gehen Zuschauer mit diesem Gefühl aus dem Theater nach Hause: Mensch, da hab‘ ich was gelernt. Einige werden sich nach Felicia Zellers Stück „Der Fiskus“ vielleicht auch mit der Faust in der Tasche ins traute Heim begeben. Zumindest all diejenigen, die wie die Figur im Stück versucht haben, ihre Modernisierungsmaßnahmen steuertechnisch geschickt refinanzieren zu lassen. Die Regisseurin Schirin Khodadadian jedenfalls breitet im Wuppertaler Engelsgarten-Theater mit ihrem Ensemble die ganze Palette der Fallstricke aus, die Zeller in ihre selbst ernannte „Wirtschaftsdramatik“ eingebaut hat. Und trocken, wie man vermuten könnte, ist dieses hintergründig groteske Stück beileibe nicht: Von krimineller Bereicherung über Ehebruch bis zum Mordversuch ist alles dabei. Die Handlung spielt sich im freudlosen Finanzamt ab – obwohl, ganz so freudlos scheint es da doch nicht zu sein, werden die Szenen doch immer wieder durch vierstimmige Songeinlagen strukturiert.
Dramaturgisch wandert das Stück an einer hierarchischen Auseinandersetzung entlang; die junge Beamten-Generation mit Zug zum Höheren (Dienstgrad) hangelt sich geschickt an der kompetenteren, aber älteren Kollegin vorbei. Beförderungen im Beamtenverhältnis sind eben nicht immer logisch nachvollziehbar. Und diese Diskrepanz macht die Verwaltungsakte und ihre dehnbare Auslegung auch angreifbar und zu Ursachen von Wut und Depression. Nele Neuer (Julia Meier) schnabuliert sich also auf den Büroleiterinnenposten, Bea (Julia Wolf), Nachname Mtinnen (nun ja), ist fassungslos, immer korrekt, immer auf Seiten der Behörde und des Staates und dann das ... Auch das steuertechnische Liebespaar Elfi Nanzen (Maditha Dolle) und Reiner Lös (Martin Petschan) – die Namen sind bestimmt von Reiner Zufall inspiriert, kann man machen, wäre aber gar nicht nötig gewesen –, ist erst einmal fassungslos, hat Bea doch gerade ein ganz großes Betrugssystem aufgedeckt. Auch die hochbegabte Betriebsprüferin Fatma (Silvia Munzón López) Tabak – grenzwertig: „Watma, hier kommt Fatma“ – kann da nicht helfen. Sie ist inhaltlich ein Nebenstrang für die Erklärung, wie Steuern durch unvorhersehbare Kontrollen eingetrieben werden. Danke dafür.
Doch schnell wird klar, bei Bea geht es um das betrügerische Cum-Ex, ein schwer zu durchschauendes System, bei dem durch computertechnische Geschwindigkeit für ein und denselben Aktienkauf bei mehreren Akteuren dieselbe Rückerstattung generiert wird. Auch der frisch gewählte Bundeskanzler war als ehemaliger Finanzminister an dem System nicht unbeteiligt, konnte sich aber naturgemäß, wie auch beim Wirecard-Skandal, an nichts erinnern. Insofern machen zeitgenössische Stücke wie die von Felicia Zeller Sinn, und wenn sie etwas hinkend nach Brecht auch zur Bildung beitragen. Schirin Khodadadian inszeniert das locker flockig mit der Handvoll spielfreudiger Mimen auf amtsgrauer Drehbühne, quasi durch einen Bildschirm hindurch. Allein die Unterscheidung zwischen Arbeitszimmer und Studio für den Nebenjob wird vielleicht in Wuppertal zu veränderten Einkommenssteuererklärungen 2021 sorgen – und vielleicht auch zu der Erkenntnis, dass ein Doppelbett nicht in einen Homeoffice-Arbeitsraum gehört, Fatma sei Dank. Mir kam die ungerechte normale Kapitalertragsbesteuerung leider zu kurz.
Der Fiskus | R: Schirin Khodadadian | 31.12. 17 Uhr & 20 Uhr, 16.1. 18 Uhr, 5.3. 19.30 Uhr | Theater am Engelsgarten | 0202 563 76 66
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Es geht darum, was es heißt, politisch aktiv zu werden“
Jenke Nordalm inszeniert Thomas Köcks „Klimatrilogie“ im Theater am Engelsgarten – Premiere 09/23
„Zu Theater gehört Wagnis und Experiment“
Intendant Thomas Braus über die neue Saison am Schauspiel Wuppertal – Premiere 08/23
„Thomas Mann tut es gut gekürzt zu werden“
Henri Hüster spricht über seine Inszenierung des Zauberbergs – Premiere 04/23
Sie haben ein knallgelbes Gummiboot
„Vogelfrei“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 01/23
Das bleibt, wenn die Masken fallen
„Die Wahrheiten“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 11/22
Wenn Liebe zum Trauerspiel wird
„Stella“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 07/22
Inklusiver Szenenabend
„Rampenschau“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 06/22
Schmerz ist nie ein Freund
„Ex. Mögen die Mitspieler platzen“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 05/22
Im Theater und „Auf Sendung“
„Nightradio“: Stefan Walz rockt wieder
Auf dem Berg, da gibt‘s koa Sünd
„Der Weibsteufel“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 02/22
Arkadien liegt gar nicht so weit weg
Nicolas Charaux inszeniert Goethes „Faust“ – Auftritt 12/21
„Wir kennen alle diesen faustischen Konflikt“
Nicolas Charaux über „Faust“ an den Wuppertaler Bühnen – Premiere 10/21
„Es gibt nicht die eine Arie, die jeder kennt“
Martin Andersson über seine „Tristan und Isolde“-Inszenierung an der Oper Wuppertal – Premiere 10/23
Gerupfte Hoffnungsträger
Musiktheater der Gegenwart: Du Yuns „Angel’s Bone“ – Oper 09/23
Den Nerv der Zeit erkannt
Screen Dance Academy #3 in Wuppertal – Festival 08/23
„Beim Kindertheater geht es um Kinder und es ist für Kinder“
Martina Wagner vom Haus der Jugend über das Sommertheater 2023 – Premiere 07/23
„Es geht nicht darum, etwas zu verstehen“
Wuppertals Opernintendant Berthold Schneider zur dritten Inszenierung von „Three Tales“ – Premiere 06/23
„Wir wollen eine Art Geisterbahn bauen“
Anne Frick über „Dream on – Stadt der Träume“ in Wuppertal – Premiere 05/23
„Jede starke Komödie ist tragisch“
Maja Delinić über „Der Revisor“ am Schauspiel Wuppertal – Premiere 03/23
Manchmal geht die Sonne wieder auf
Azeret Koua inszeniert „Das Spiel ist aus“ im Autoscooter – Auftritt 02/23
Angst
Beobachtung eines Kritikers im Kindertheater – Bühne 02/23