Die 1978 in Kalifornien geborene US-amerikanische Musikerin Kamala Sankaram ist gerade in ihrem Heimatland bekannt. Als Kind bekam sie Klavierunterricht. Doch die Tochter eines indischen Vaters und einer weißen amerikanischen Mutter studierte zunächst in New York Psychologie. Erst nach ihrer Promotion entschied sie sich für die musikalische Laufbahn. Sie tritt als Koloratursopranistin auf und lehrt Komposition an der State University of New York-Purchase. Gerade ihre musikalischen Bühnenwerke sind bekannt. Ihre Kammeropern haben Frauen zum Thema, die mit patriarchalischen Strukturen konfrontiert werden. „Thumbprint“ (Daumenabdruck) aus dem Jahr 2014 ist solch ein Werk, das im Opernhaus als deutsche Erstaufführung auf die Bühne gehoben wird.
Nicht die ganze Geschichte
In dem Stück geht es um das wahre Leben von Mukhtar Mai. Die Angehörige des Tatla-Clans, geboren 1972, lebt im verarmten pakistanischen Dorf Meerwala. Als ihr 12-jähriger Bruder Shakur angeblich eine erwachsene Tochter des Mastoi-Clans angefasst hat, bittet sie als Frau der Familie demütig um Verzeihung. Sie wurde nicht angenommen. Stattdessen musste die damals 28-Jährige eine Gruppenvergewaltigung über sich ergehen lassen, während ihr Vater daran gehindert wurde, ihr zu helfen. Es ist dort üblich, dass vergewaltigte Frauen Suizid begehen. Unterstützt von ihrer Mutter, ließ sie es sein und klagte, ermutigt vom örtlichen Imam, die Täter an. Schließlich wurden die Vergewaltiger zum Tod verurteilt. Und Mukhtar Mai erhielt eine Entschädigung. Davon gründete sie eine Schule für Mädchen, damit sie lesen und schreiben lernen. Denn als Analphabetin musste sie ihre Strafanzeige mit einem Daumenabdruck unterzeichnen. Bis dahin wird die Geschichte so oder fast genauso in der Oper wahrheitsgemäß geschildert. Verschwiegen wird aber, dass es danach ohne Happy End weiterging. Denn die Todesurteile wurden neun Jahre vor Entstehung der Kammeroper wieder aufgehoben, bis auf eine Person die Täter freigelassen. Daraufhin bekam Mukhtar Mai Polizeischutz. Bis heute erhält sie vom Mastoi-Clan Morddrohungen.
Die also nicht vollständig vertonte Geschichte wird von Katharina Kastening auf der vom Auditorium abgeschotteten Opernbühne packend intim in Szene gesetzt. Die Handlungen finden auf einer weißen, rechteckigen Plattform (Bühne und Kostüme: Bettina John-Taihuttu) statt, die ohne Requisiten auskommt. An der Fronseite befindet sich ein Whiteboard, auf die Elena Till Archivbilder und Live-Aktionen projiziert. Ihr gegenüber befindet sich das siebenköpfige Kammerensemble. An den beiden anderen Seiten nehmen die Zuschauer Platz, die also ganz nah dran sind.
Wandlung zur Aktivistin
Im weißen orientalischen Outfit – Mai zusätzlich mit einem violetten Hajib (ein muslimisches Kopftuch) – agieren die sechs Akteure, die bis auf die Protagonistin in verschiedene Rollen schlüpfen. Dank der ausgezeichneten Personenführung agieren sie pantomimisch-gestenreich und verkörpern die unterschiedlichen Charaktere sehr anschaulich. Auch gesanglich präsentieren sie sich bestens. Allen voran stellt als Gast die Koloratursopranistin Sharon Tadmor mit ihrer in allen Lagen ebenmäßigen, variablen Stimme die Hauptfigur mit all ihren Emotionen exzellent dar. Auch ihre Wandlung als von Hoffnungslosigkeit geplagte Person – dargestellt durch sie fest umschlingende Seile – hin zu einer selbstbewussten Frau, die zur Aktivistin reift, gestaltet sie ergreifend. Auch die weiteren fünf Sänger beeindrucken gesanglich und schauspielerisch. In den weiblichen Rollen sind es Banu Schult als Mutter, Justizministerin und Reporterin mit ihrem tragfähigen, zum Alt hin tendierenden Mezzosopran und Nihal Azak (Annu, junge Frau, Reporterin) mit ihrem klaren Sopran.
Diesem hohen Niveau stehen die drei Herren in nichts nach. Oliver Weidingers kraftvoller Bassbariton passt treffend zu den Charakteren des Vaters, Richters, eines Reportes und Mitglieds des Mastoi-Clans. Der Tenor von Merlin Wagner wird dem Mastoi-Anführer Faiz und den drei anderen Rollen (Polizist, Reporter, Bewohner) voll gerecht. Nicht zuletzt ist es als weiterer Gast Sergio Augusto (Shakur, Imam, Reporter, Mastoi, Bewohner), der mit seinem variablen Tenor beeindruckt.
Die tonal gehaltene Musik ist sehr eingängig. Als Basis dient die Minimal Music mit etlichen Anlehnungen an die Tonsprache des US-amerikanischen Komponisten Philip Glass, mittels sich ständig wiederholender simpler motivischer Drei- und Viertonfolgen oder einer siebenstufigen Tonleiter. Darin verarbeitet sind südasiatische Musikstile wie die klassisch-indischen Genres Raga, Tal oder Qawwaali. Diese Mixtur mit ihrer melodischen und rhythmischen Dominanz untermalt klanglich das Bühnengeschehen: dramatisch, melancholisch, depressiv, selbstbewusst oder widerspenstig. Die Instrumente Geige, Bratsche, Kontrabass, Flöte, Klavier respektive Harmonium, Schlagzeug plus die indischen Trommeln Tabla und Dhol vermitteln die unterhaltsamen wie gefühlsbetonten Klänge. Bonnie Wagner, Studienleiterin der Wuppertaler Oper, lotst die sieben Instrumentalisten umsichtig durch die Partitur und lässt dank ihres Dirigats die Gesangssolisten unverkrampft zur Entfaltung kommen.
Das Publikum zeigt sich beeindruckt von den rund 90 Minuten am Stück und honoriert alle Beteiligten mit ausgiebigem Beifall.
Thumbprint | 4., 5., 6.7. | Oper Wuppertal | 0202 56 37 666
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