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Joachim Gottfried Goller
Foto (Ausschnitt): Florian Scheible

„Abschnitte, die im Nichts versanden“

30. April 2025

Regisseur Joachim Gottfried Goller über „Die kahle Sängerin“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 05/25

Mr. und Mrs. Martin wissen nicht, dass sie verheiratet sind, das Dienstmädchen Mary hält sich für Sherlock Holmes und ein Feuerwehrmann sucht nach einem Brand: Eugène Ionescos erstes Stück von 1948 begründete das Absurde Theater mit. 

engels: Herr Goller, obwohl die Sängerin meistens nicht kahl ist, steht sie dennoch auf vielen Spielplänen. Warum?

Joachim Gottfried Goller: Ich glaube, Stücke, die längere Zeit nicht gespielt werden, werden irgendwann vermisst und treten dadurch wieder ins Bewusstsein. Es wird dann plötzlich an mehreren Orten gleichzeitig wieder aus dem Regal gezogen. Das Stück ist ja kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, auch als Antwort auf schwierige, mühsame, gewaltvolle Zeiten, und natürlich sind es auch konfliktreiche Zeiten, in denen wir uns gerade bewegen. Ich würde allerdings vorsichtig sein mit der These, dass das, was wir gerade erfahren, sei ja wie damals. Das glaube ich nicht – und vor allem möchte ich die jetzige Situation gerne differenzierter betrachten als einfach nur, da sei ein Krieg vorbeigewesen. De facto funktioniert Gleichzeitigkeit vor allem in unseren Zeiten viel komplexer. Auch dadurch, wie wir informiert sind und gleichzeitig auch verschiedene Zugänge im Jetztzustand finden. 

Dennoch: Heute ist Nonsens-Comedy schon oldschool. Wie verstaubt ist das 75 Jahre alte Stück?

Das ist immer nur eine Frage des Zugriffs. Wie schafft man es, Texte mit unterschiedlichsten Theaterzugriffen – sei es z.B. ein bürgerliches Trauerspiel oder sei es alles, was Kleist geschrieben hat – zu transportieren. Das Tolle am Theater ist ja, dass es immer im Moment stattfindet, und wenn man ein bisschen schiebt und dreht, kann man den heutigen Ton bei allen Texten finden. Das ist manchmal natürlich gar nicht so einfach und bedeutet aus meiner Perspektive immer eine sehr genaue Beschäftigung mit dem Stoff, um herauszufinden: Was meinten Autoren, als die Texte geschrieben wurden, und wie könnte man das heute denken? Immer im Kontext einer Kunstsprache, die aber bei den Empfängern ankommt. Sprache ist ja etwas, dass sich immer verändert. Meine Eltern sprechen völlig anders als ich, sie verwenden andere Wörter als ich – wichtig ist ein Verständnis zwischen diesen Ebenen. Bestimmte Dinge verlieren wir und verstehen trotzdem beide. Auf Nonsens lässt sich aus dieser Perspektive recht gut zugreifen. Bei Komödien geht es ja auch sehr oft um Rhythmus – und so versuchen wir einen Sprechrhythmus von vor 75 Jahren anzunehmen und ein Sprechen zu finden, wo sich das in heutiger Form auch trifft. 

Die Sinnlosigkeit als einzig sinnvollen Daseinszustand zu betrachten, könnte in Zeiten des rechten Neokonservatismus eine gefährliche Haltung sein.

Das ist die Frage, wie man dieses Stück von Ionesco auseinander dividiert. Es gibt durchaus Figuren wie Mary, eine Art Kassandra, die so warnende Begrifflichkeiten nutzen, und es gibt die Figuren, die den Nonsens zelebrieren, um zu entwischen. Das Tolle an dem Stück ist aber, dass die sinnlos erscheinenden Momente, wenn man mit ihnen sorgsam umgeht, ein Tableau von unterschiedlichen schwierigen Zeiten erzeugen. Wenn ich Komödien inszeniere, frage ich mich zuerst: Ist das die Zeit, in der wir uns mit Komödien beschäftigen sollten? Müssen wir uns nicht eigentlich mit anderen Dingen beschäftigen? Ich folge da der Fährte, der man in den 1950ern gefolgt ist, als man in Form von Komödien und Operetten nach Umgängen mit dieser Zeit gesucht hat. Darin liegt auch etwas Tröstendes, denn bei Ionesco findet man eine ganz klare Zustandsbeschreibung – und wenn man diese Gruppierung am Ende wahrnimmt, ist es eine Art von Anweisung, wie man mit dieser Zeit umgehen könnte, wenn rechte Debatten überhandnehmen und sich ins Zentrum stellen. Ich habe gestern in der Zeitung gelesen, dass Deutschland mehr Soldaten braucht, und war davon schockiert. Und dann schaue ich ins das Stück und denke: na ja. Danach gehe ich zum Kühlschrank und denke darüber nach, was ich mir heute Abend kochen könnte. Das ist die Strategie, die wir alle ständig leben. Einerseits sehr ernüchtert, aber auch lebenserhaltend.

Wie inszeniert man so ein Antistück? Viel Choreografie gibt es nicht, oder?

Das ist die Frage, mit der alles startet. Wird das vielleicht so ein Herbert Fritsch-Abend, wo wir alle uns die ganze Zeit in einer ganz wilden Choreografie bewegen? Im ersten Moment ist das gar nicht so mein Zugang. Man geht im Stück so scharf in die Überzeichnung, dass Choreografie nur etwas Unterhaltendes hätte. Tatsächlich merkt man, wie viel bei Ionesco nur über die Sprache funktioniert. Da liegt für mich die Hauptarbeit als Regisseur: welchen Umgang wir mit Stille finden und eine Form dafür zu finden, als es gäbe etwas zu benennen, aber niemand benennt, was eigentlich los ist. Gleichzeitig auch einen Umgang mit der Dynamik dieses Auflösens der Absurditäten zu suchen. 

Heutzutage reduziert sich Sprache immer mehr auf 160 Zeichen – trotzdem wird viel geschriebener Nonsens produziert. Das konnte Eugène Ionesco doch nicht vorhersehen, oder?

Wenn man sich das Stück genauer ansieht, habe ich fast das Gefühl, das Stück ließe sich in unendlich viele Teile zerlegen. Weil es immer wieder kurze Abschnitte gibt, die im Nichts versanden. Und da finde ich dann diese 160 Zeichen-Logik wieder. Wenn man sich den Beginn des Stücks anschaut, das Ehepaar Smith – bei uns gibt es tatsächlich einen zweiten Mister Smith, denn wir haben die Rollen als gleichgeschlechtliches Paar besetzt. Und der eine wirft seinem Partner anfangs immer häppchenweise kurze Informationsbröckchen hin, auf die keine Reaktion kommt. Das ist dann so, als wenn man eine SMS schickt, und es kommt nichts hinterher, außer dem Häkchen. Und zwei Stunden später kommt wieder was hinterher, wo man nochmal ausholt. Wie heute gibt es im Stück immer wieder Sequenzen, in denen wahnsinnig schnell Empörung entsteht. Irgendjemand hat sein Knie irgendwo hingelegt, und dann sind alle schwer aufgeregt. Diese kleinen privaten Situationen, diese Konflikte über Details, die total schnell Antwort, Antwort, Antwort auslösen und dann ist es explodiert. 

Benötigt man für Ionesco überhaupt komödiantisches Talent auf der Bühne oder ist das eher kontraproduktiv?

Ein Verständnis und ein Interesse für Komödie sind schon eine Voraussetzung. Komödie ist aber ein verhandelbares Element. Wenn man da mit einem Comedian-Gestus reingeht – in eine Setzung mit mir als Regisseur – dann wird das schwierig. Wir haben den Komödienbegriff im Blick und schauen die ganze Zeit, dass wir beispielsweise Pointen und komische Momente so hinauszögern, bis es hinten runterkippt ins Dunkle, ins Schwarze. Das ist auch im Sinne von Ionesco.

Die kahle Sängerin | 23. (P), 24., 31.5., 13., 22., 27.6., 5., 10., 12., 13.7. | Theater am Engelsgarten | 0202 563 76 66

Interview: Peter Ortmann

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