engels: Herr Swiderek, Sie haben das Schicksal der Kinder in Heimen erforscht?
Thomas Swiderek: Im Auftrag des Landschaftsverbandes Rheinland haben wir eine Studie durchgeführt, die die Zeit von 1945 bis Anfang der 1970er Jahre betraf. Ziel war es, das Leben und die Erziehungspraxis in den damaligen Fürsorgeerziehungseinrichtungen zu erforschen.
Wie war das Leben in den Heimen damals?
Die Heimerziehung jener Jahre hat sich als ein geschlossenes, oftmals brutales System gezeigt. Es herrschten rigide Erziehungsmethoden. Die Kinder und Jugendlichen waren den Erziehern ausgeliefert. Zwar gab es damals auch die Möglichkeit, sich über erfahrenes Unrecht beim Landschaftsverband zu beschweren. Dies wurde von den Kindern und Jugendlichen aber äußerst selten genutzt. Und wenn Schläge und Demütigungen angezeigt wurden, wurden selten die beteiligten Erzieher belangt.
Gab es einen Unterschied zwischen konfessionellen und staatlichen Einrichtungen?
Unsere Studie hat sich mit dieser Frage nicht explizit beschäftigt. Andere Untersuchungen zeigen aber, dass die Verhältnisse in kirchlichen Einrichtungen noch strenger waren.
Ab wann haben sich die Verhältnisse geändert?
Das lässt sich nicht mit einer Jahreszahl festmachen. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre lösten die Heimkampagnen einen Wandlungsprozess aus und unterstützten die wenigen Reformbewegungen innerhalb der Heimerziehung. Die Aufmerksamkeit, die die Heimkinder durch die Proteste der Studenten erfuhren, bewirkte erste Änderungen und zwang die Erziehungsbehörden zum Handeln. Die Heime wurden verkleinert. Es wurden dezentrale Angebote geschaffen. Die Ausbildung der Erzieher verbesserte sich. Das Personal wurde besser bezahlt. Aber dieser Wandel dauerte bis in die 1980er Jahre an.
Und jetzt herrscht eitel Sonnenschein?
Körperliche Gewalt ist heute in Erziehungseinrichtungen verboten. Doch aktuelle Untersuchungen belegen, dass Schläge als Mittel zur Erziehung in Einzelfällen noch eingesetzt und auch – unter der Hand – akzeptiert werden, systematisch geschieht das aber nicht mehr. Meist ist es ein Ausdruck der Hilflosigkeit der Erzieherinnen und Erzieher in den Einrichtungen. Deshalb müssen die Rechte der Kinder weiter ausgebaut werden. Kindern und Jugendlichen sollten auch externe Beschwerdemöglichkeiten in der Jugendhilfe angeboten werden. Bislang sind für externe Beschwerden die Jugendämter und Landesjugendämter zuständig. Wünschenswert wäre eine unabhängige Ombudsstelle. Wir haben als Modellversuch eine solche Stelle für die Städte Essen und Köln eingerichtet.
Welche Beschwerden wurden Ihnen vorgetragen?
Die Kinder und Jugendlichen sind sehr differenziert und reflektiert mit ihrer Kritik umgegangen. In der Modelllaufzeit von zweieinhalb Jahren ist uns kein Missbrauchsfall begegnet. Es ging um elterliches Besuchsrecht, um Handy- und Internetnutzung, um die Frage, ob die Verweigerung der Auszahlung des Taschengeldes als Strafe eingesetzt werden kann. In der Konfliktlösung wurden wichtige konstruktive Diskussionen in den Einrichtungen angeregt.
Kinder leben in Heimen inzwischen sicherer als in Familien?
Durchaus. Wir wissen inzwischen, dass die Familie nicht immer der Hort des Glückes für alle Kinder ist. Nachdem die Heimerziehung in den 1980er und 1990er Jahren heftig kritisiert wurde und man die Einweisung in eine stationäre Einrichtung, soweit es ging, vermied, steigt die Zahl der Unterbringungen in den letzten Jahren wieder erkennbar an. Die Jugendämter sind durch Fälle, in denen Kinder in ihren Familien vernachlässigt wurden und zu Tode kamen, sensibilisiert. Für einige Kinder mag es ein Segen sein, aus ihren Familien herauszukommen. Stationäre Einrichtungen leisten heute in der Regel eine gute Arbeit.
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