Der Geschmack von Rost und Knochen
Belgien, Frankreich 2012, Laufzeit: 127 Min., FSK 12
Regie: Jacques Audiard
Darsteller: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Armand Verdure
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Extremes Kino der Körperlichkeit
Körper-Arbeit
„Der Geschmack von Rost und Knochen“ von Jacques Audiard
Es ist vielleicht die Mitte des Films, und man hat da schon einiges zu verarbeiten, da sieht man eine hübsche, junge Frau selbstbewusst auf eine Gruppe grober, ungepflegter Typen zuschreiten. Sie ist schlank, sieht beinahe wie ein Model aus. Die Kerle hingegen sind verschlagen und verströmen Aggression. Alleine dieser Kontrast löst im Zuschauer schon irritierende Gefühle aus. Blickt man an den schlanken Hosenbeinen der Frau hinab, sieht man zwischen Hosensaum und ihren Turnschuhen an Stelle von Unterschenkeln Eisenprothesen. Und plötzlich fliegen nicht nur Erotik und Gewalt durch das Bild, sondern noch ganz andere Themen, die man nur schwer fassen kann. Dann kassiert die Frau von den Männern ein dickes Bündel Geld und kehrt ihnen mit arrogantem Blick den Rücken zu. Sie genießt ihre Blicke auf ihrem Körper, und sie genießt die schockierten Blicke auf ihre Prothesen.
Körper als Kapital
Eine abweisende Ausfallstraße mit dem Flair eines Gewerbegebiets: An dieser Straße versucht der obdachlose Ali für sich und seinen Sohn eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Mit dem Jungen, zu dem er kaum eine Beziehung hat, will er nach Marseille. Dort wohnt seine Schwester Anna (Corinne Masiero), die dem plötzlich unfreiwillig zum alleinerziehenden Vater gewordenen Ali helfen soll, obwohl sie selber nur gerade so über die Runden kommt. Der gut trainierte Ali findet jedoch schnell in einem Club eine Anstellung als Türsteher. Dort lernt er Stéphanie kennen, die er vor einem randalierenden Gast schützt. Später, als Ali die hübsche Frau nach Hause fährt, sagt sie, dass sie es mag, wenn die Männer ihre Beine angucken. Ein paar Wochen danach hat Ali seinen Job nicht mehr, und die Frau hat ihre Beine nicht mehr. Der neue Film von Jacques Audiard („Ein Prophet“) schließt zwei Themenkomplexe miteinander kurz. Zum einen die finanzielle Misere: Ali lebt am Rande der Gesellschaft und schlägt sich mit Billigjobs durch, seine Schwester ist eine einfache Kassiererin – später wird sie diesen Job verlieren. Zum anderen geht es um Körper. „Der Geschmack von Rost und Knochen“ kommt in seiner extremen Körperlichkeit, die ans Absurde grenzt, dem asiatischen Kino nahe. Der realistische Grundton lenkt den Film aber in eine ganz andere Richtung, als man es vom rasenden Irrsinn manch japanischer oder südkoreanischer Horrorfilme kennt.
Jacques Audiard hat die Rollen des etwas tumben, mitunter animalisch wirkenden Ali und der aufreizenden Stéphanie perfekt besetzt. Ali-Darsteller Matthias Schoenaerts hat zuletzt in „Bullhead“ seine außerordentliche körperliche Präsenz einzusetzen gewusst. Dort spielte er einen Bullenzüchter, der nicht nur sein Vieh mit Testosteron vollpumpt, sondern längst selber süchtig nach der täglichen Hormondosis ist. Marion Cotillard („La vie en Rose“) wiederum verkörpert die drei Seiten von Stéphanie eindringlich: die gelangweilte, nach dem Kick suchende Schöne, die nach ihrem Unfall geschockte und in Depression versinkende Lebensmüde, und die Frau, die trotz ihres Handicaps zu neuem Selbstbewusstsein findet. Mit ihrem Talent schaffen es die beiden nicht nur, die starke Körperlichkeit in den Film zu tragen, sie vermitteln auch glaubhaft, dass diese zwei so unterschiedlichen Figuren eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die man mit einem albernen Kalauer treffend charakterisiert: Arm dran und Bein ab.
Arm dran, Bein ab
Denn weder sozial, noch emotional, noch intellektuell passen Ali und Stéphanie zusammen. Er ist ein verantwortungsloser Egomane, der nicht nur sein eigenes Leben vermasselt. Sie hingegen hat Stil, ist klug und hat ein reiches Gefühlsleben. Was sie nicht braucht, ist Mitleid. Er hat kein Mitleid. Wenn er nach ihrem Unfall fragt, ob ihr der Sex nicht fehlt, fragt er nicht aus Mitleid. Bei ihm klingt das eher wie „Hast du keinen Durst?“. Und dann geht er eben mit ihr ins Bett. So einfach ist das bei Ali. Gefühle und Empathie spielen bei ihm kaum eine Rolle. Doch die vage Verbindung zwischen dem emotionalen Krüppel und dem körperlichen Krüppel wird immer wieder zerrissen, um kurz darauf wieder neu geknüpft zu werden und abermals zu scheitern. Die eine hat ihren Körper bei der Arbeit zerstört und muss nun lernen, wie sie auch diesen kaputten Körper selbstbewusst nutzen kann. Der andere hat gelernt, wie er Kapital daraus schlägt, Körper zu zerstören – andere und seinen eigenen. In einem dramatischen, wiederum ungemein körperlichen Moment, der den Zuschauer abermals fassungslos zuschauen lässt, erfährt Ali, dass man ihn auch für etwas Positives einsetzen kann.
In „Blood Ties“, dem neuen Film von Guillaume Canet („Kleine wahre Lügen“), werden Cotillard und Schoenaerts demnächst wieder gemeinsam auf der Leinwand zu sehen sein. Marion Cotillard wird dann wieder ihre schönen Beine haben und man wird sich im Nachhinein noch mal staunend auch an die technische Perfektion dieses Films erinnern, mit der er die Illusion der körperlichen Versehrtheit erzeugt. Die Illusion der emotionalen Versehrtheit verdankt er hingegen vor allem seinen beiden Hauptdarstellern.
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