John, Mitte 30, arbeitet als Fensterputzer in der kleinen nordirischen Stadt, in der er mit seinem Sohn, dem vierjährigen Michael, alleine wohnt, seit die Mutter des Kindes ein halbes Jahr nach dessen Geburt in ihre Heimat Russland zurückgekehrt ist. Neben dem üblichen Alltag hat sich in letzter Zeit ein neues Ritual in das Leben der beiden eingeschlichen: Sie besuchen an den Wochenenden ‚Freunde‘. Beziehungsweise: Sie besuchen Fremde, die vielleicht Freunde sein könnten. Oder Familie. Was Michael nämlich nicht weiß: Sein Vater sucht eine neue Familie für ihn. Er will geeignete Kandidaten finden, die Michael adoptieren. Denn John ist unheilbar an Krebs erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Die Ruhe, mit der Uberto Pasolini in „Nowhere Special“ sein Thema angeht, ist erstaunlich. Kein großes Drama, kein Schrecken, nur der Alltag von John und Michael empfängt den Zuschauer und weist ihm langsam den Weg in diese Welt, mal traurige, mal schöne Welt mit kleinen Spielen am Nachmittag im Park und Gutenachtgeschichten am Abend. Im Zentrum steht John, der nur noch den einen Gedanken verfolgt: eine gute Familie für seinen Sohn zu finden, damit sein Sohn eine gute Zukunft hat, auch wenn er selber längst fort ist. Die Ruhe der Bilder wird auf der Ebene der Dialoge weitergetragen. Häufig erzählen die kleinen Details in Gesten, Mimik und Blicken vom Innenleben der Hauptfiguren Michael und John. Die gemeinsamen intimen Momente von Vater und Sohn bringt der Film mit einer Zärtlichkeit auf die Leinwand, die einem im Angesicht der Hintergründe mitunter den Atem rauben, dann wieder wie filmische Trauerarbeit wirken. Neben dem betörenden vierjährigen Daniel Lamont als Michael steht James Norton („Little Women“) als John vor der Kamera. Im Gegensatz zu seiner Figur liegt eventuell eine große Zukunft vor ihm: Er wird derzeit als Favorit um die Nachfolge von Daniel Craig als James Bond gehandelt.
Julia Ducournaus brachialer Film „Titane“, Nachfolger ihres Kannibalismus-Debüts „Raw“, hat überraschend in diesem Jahr die Goldene Palme in Cannes gewonnen. Alexia (Agathe Rousselle) hat nach einem Unfall in ihrer Kindheit eine Titan-Platte im Kopf. Später tanzt sie auf Autoshows, wo sie auch mal aufdringliche Fans killt. Mit einem Auto hat sie Sex und wird schwanger. Dann killt sie noch ein paar Menschen und steckt ihr Elternhaus in Brand. Sie flieht und nimmt die Identität eines vor Jahren verschollenen Jungen an. Mit dessen Vater (Vincent Lindon), ein Anabolika-Junkie, bildet sie eine Schicksalsgemeinschaft, die Körperpolitik und Identität auf den Kopf stellt. Der Film ist eine grobe Tour de Force zwischen Tarantino, Cronenberg und queer-feministischem B-Movie, die überraschend zart endet.
Außerdem neu in den Kinos in Wuppertal, Solingen und Remscheid: Lisa Eders Naturdoku „Der wilde Wald – Natur Natur sein lassen“, Stefan Ruzowitzkys etwas anderer Historienthriller „Hinterland“ und Edgar Wrights Musiker-Portrait „The Sparks Brothers“. Dazu starten Dennis Wells' Bienen-Doku „Tagebuch einer Biene“ und Nana Neuls Familienkomödie „Töchter“.
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