Es ist nicht so, dass es in Italien schon immer mehr Toleranz gegenüber Menschen mit Behinderung gab als anderswo. Lange kamen sie im öffentlichen Bewusstsein sogar höchstens als Kriegsversehrte vor: Als sich eine progressive italienische Bildungspolitik in den 1970er Jahren das große Motto „Inklusion“ auf die Fahnen schrieb, war „behindert“ noch nicht einmal ein gängiges italienisches Wort. Doch dann gingen die Italiener einen radikalen Schritt: Sie schafften alle Sonderschulen ab.
Seit 40 Jahren gehen in Italien so alle gemeinsam in die Schule: Menschen mit Lernschwächen, körperlich Eingeschränkte, Autisten, Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten und vermeintlich „ganz normale“ Schüler. 99 Prozent aller Menschen mit Behinderung kommen in den Regelschulen unter. In Deutschland sind es, trotz großer Inklusions-Debatte, gerade mal zehn Prozent.
Niemand behauptet, dass dieses System ohne Schwächen ist. Doch eines haben die Italiener so geschafft: Menschen mit Behinderung sind ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft geworden. Unabhängig vom pädagogischen Lernerfolg: Die Gemeinschaftsschulen haben der systematischen Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ein Ende bereitet. Heute lernen die italienischen Kinder früh, dass es ganz unterschiedliche Formen des Andersseins gibt. Und dass man damit ganz unaufgeregt umgehen kann.
Die Resultate dieses über Jahrzehnte gefestigten Mentalitätswechsels lassen sich heute in ganz Italien beobachten. Von Universitäten bis zu Bahnhöfen: Öffentliche Gebäude sind großzügig auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung eingestellt. Dabei sieht man den Anlagen an, dass sie nicht, wie anderswo, erst nach dem Inkrafttreten der UN-Behindertenkonvention im Jahr 2008 barrierefrei nachgebessert wurden. Sie sind vielmehr der gewachsene Ausdruck einer gelebten Inklusions-Philosophie.
Noch wichtiger ist aber: Es gibt in Italien kaum Berührungsängste zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten. Behinderten Besuchern aus dem Ausland fällt das oft besonders deutlich auf: Während Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen in Deutschland häufig angestarrt werden und spüren, wie schwer sich ihre Mitmenschen damit tun, den richtigen Ton gegenüber ihnen zu finden, können sie sich südlich der Alpen plötzlich ganz ohne irritierende Blicke durch die Straßen bewegen. Cliquen, die mit ihren Freunden im Rollstuhl nachts durch die Clubs ziehen, kann man in Italien immer mal wieder beobachten. Gelebte Entkrampfung sozusagen: Behinderung wird nicht mehr als entscheidender Teil der Persönlichkeit wahrgenommen.
Die italienische Inklusion hat aber auch ihre Nachteile. Weil die Menschen mit Behinderung auch auf dem Arbeitsmarkt oft als ganz normale Mitbewerber wahrgenommen werden, haben sie es an dieser Stelle oft schwer. Die Arbeitslosigkeit unter Italienern mit Behinderung ist im Vergleich mit anderen Ländern besonders hoch.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
www.bsk-ev.org | Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. (BSK) ist mit über 25.000 Mitgliedern und Förderern deutschlandweit organisiert.
www.bvkm.de | Bundesverband für Körper- und mehrfachbehinderte Menschen
www.behindertnaund.de | Wuppertaler Verein „Behindert, na und?“
leidmedien.de | Internetseite zur Vermittlung von Wissen über vorurteilsfreie Sprache
Thema im April: ZUKUNFT JETZT!
Wir brechen eine Lanze für die demokratische Moderne
Zeigen, was geht: an der Basis, digital und in der Politik! Sind Sie ein lupenreiner Demokrat? Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Floskel Barrierefreiheit
Menschen mit Behinderungen in den Parteiprogrammen: Freie Wege für alle? – THEMA 03/17 FREMDKÖRPER
„Wir sind Menschen dritter Klasse“
Karl-Josef Günther über den problematischen Alltag von Menschen mit Behinderungen – Thema 03/17 Fremdkörper
Inklusion im Schatten der Schwebebahn
Der Verein „Behindert, na und?“ mit eigenem Förderzentrum am Arrenberg – Thema 03/17 Fremdkörper
Ich, der ängstliche Furz
Über den richtigen Umgang mit behinderten Mitmenschen – Thema 03/17 Fremdkörper
Abrisspläne
Intro – Altmodisch bauen
Unterirdische Energiebilanz
Kleinbäuerliche Strukturen effizienter als Agro-Industrie – Teil 1: Leitartikel
„Man kann Nullkosten entstehen lassen“
Permakultur-Gärtnerin Hannelore Zech über das Konzept der Selbstversorgung – Teil 1: Interview
Solidarisch selbstversorgt
Permakulturhof Vorm Eichholz in Wuppertal – Teil 1: Lokale Initiativen
Prima wohnen
Alternative Rohstoffe in der Baubranche – Teil 2: Leitartikel
„Die Betonindustrie verändert sich“
Felix Jansen (DGNB) über Hindernisse auf dem Weg zu nachhaltigem Bauen – Teil 2: Interview
Auf Sand gebaut
Kölner Architekt Thorsten Burgmer über nachhaltiges Bauen – Teil 2: Lokale Initiativen
Die deutsche Stadt trotzt der Zukunft
Politik schreckt vor nachhaltiger Infrastruktur zurück – Teil 3: Leitartikel
„Einfamilienhäuser müssen wir ablehnen“
Landschaftsarchitektin Simone Linke über Städte im Klimawandel – Teil 3: Interview
Nicht nur Biene Maja
Mülheimer Verein Wilde Biene kämpft für Insektenschutz – Teil 3: Lokale Initiativen
Superblocks, super Stadt?
Weniger Autoverkehr in Barcelona – Europa-Vorbild: Spanien
Machmenschen
Was es braucht für die grüne Stadt – Glosse
Gerechtes neues Jahr
Intro – Armut leicht gemacht
Klassenkampf von oben
Reiche und ihre politischen Vertreter gönnen den Armen nicht das Schwarze unter den Fingernägeln – Teil 1: Leitartikel
„Die Crux liegt in der Lohnstruktur“
Ökonomin Friederike Spiecker über Ursachen und Bekämpfung von Armut – Teil 1: Interview
Für eine Kindheit ohne Armut
Die Diakonie Wuppertal – Teil 1: Lokale Initiativen
Angst und Unwissen
Ökonomische Bildung darf nicht mehr Mangelware sein – Teil 2: Leitartikel
„Eindeutig ein Defizit bei der Demokratiebildung“
GEW-Vorsitzende Maike Finnern über gerechte Schulbildung – Teil 2: Interview
„Um den Armen zu geben, braucht man nicht das Geld der Reichen“
Ökonom Maurice Höfgen über Staatsfinanzierung und Wohlstand – Teil 2: Interview
Wirtschaft für alle
Die Gruppe Gemeinwohl-Ökonomie Köln-Bonn – Teil 2: Lokale Initiativen
Nachrichten als Krise
Medienfrust und der Vertrauensverlust des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – Teil 3: Leitartikel