Im Mai bescherten der Wiener Life-Ball, die weltweit größte Benefiz-Veranstaltung zu Gunsten HIV-infizierter und Aids-erkrankter Menschen, und der Sieg Conchita Wursts alias Tom Neuwirth beim Song-Contest, Österreich international das Image des supertoleranten, liberalen Landes im Umgang mit Homosexualität. Doch hinter der Fassade sieht die Sache anders aus. In den sozialen Netzwerken häufen sich mittelalterliche Hetz- und Hassparolen gegen die singende, vollbärtige Dragqueen und ihre Lebensart. Die Life-Ball-Plakate wurden besprüht. Die FPÖ stellte Strafanzeige gegen das Poster, auf dem eine schöne und nackte Eva mit vollen Brüsten und Penis zu sehen ist. Und auch in der Politik gibt es beharrende Kräfte, die gegen ein Ende der Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Stimmung machen. Dr. Marcus Franz etwa, der seit Oktober 2013 für das „Team Stronach“ – die österreichische Ausgabe der AfD – als Abgeordneter im Nationalrat sitzt, bezeichnete Homosexualität als „genetische Anomalie“ und versuchte anschließend, sich durch den Unterschied zwischen anomal und abnormal herauszureden. Höhepunkt der homosexuellenfeindlichen Aktionen war ein Buttersäureattentat bei der Regenbogenparade in Wien Mitte letzten Monats. Die grüne Europapolitikerin Ulrike Lunacek wurde mit der übelriechenden Flüssigkeit beworfen.
Inwieweit setzten die Zuschauer ein politisches Zeichen beim Song-Contest? Die Show genießt gerade bei Homosexuellen und Freunden des gepflegten Trash Kultstatus. Auch von deutscher Seite kam, seit Nicole bieder von „Ein bisschen Frieden“ sang, nur Lena Meyer-Landrut weiter als die schrillen Auftritte von Guildo Horn und Stefan Raab. Egal also, ob schwul oder hetero, Paradiesvögel haben bei dem Schlagerwettbewerb oft größere Chancen, der Exotikfaktor ist hier entscheiden.
Abseits des Showbiz sieht die Sache in Österreich ganz anders aus, zum Beispiel in der Politik. „Sich innerhalb einer Amtszeit zu outen, traut sich niemand, weil man dann darauf reduziert wird“, weiß Marco Schreuder, ein schwuler Grünenpolitiker. Nur wenige Politiker tun es, so die grüne EU-Abgeordnete Ulrike Lunacek oder Gerald Grosz, Chef der rechtspopulistischen Partei „Bündnis Zukunft Österreich“. In der Spitzenpolitik ist die Homosexualität noch lange nicht angekommen. Von einem „ich bin schwul und das ist gut so“ eines Wiener Oberbürgermeisters und von einem schwulen Außenminister ist Österreich noch weit entfernt. Zwar gratulierten alle ranghohen Politiker Neuwirth artig zum Erfolg – ein erzkonservativer Wähler wird dadurch aber noch lange nicht weltoffen.
Nicht anders im Sport. Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Skispringerin Daniela Iraschko-Stolz, die im August 2013 mit ihrer eingetragenen Partnerschaft mit einer Ärztin bewusst ein gesellschaftspolitisches Statement setze. Für Schlagzeilen sorgte auch der frühere Skirennfahrer Rainer Schönfelder, der sich die Nägel lackierte, sich als Sänger versuchte und nach einer verlorenen Wette nackt auf die Piste ging. Nicht anders in Deutschland: Fußballer Thomas Hitzlsperger wusste schon, warum er sich erst nach seiner aktiven Zeit outete.
Aber gerade Menschen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, bläst der Wind ins Gesicht. Da ist zum einen die Gesetzgebung. Seit 2001 dürfen sich Homosexuelle „verpartnern“. Heiraten nicht. Wie in Deutschland. In Österreich dürfen sie dazu jedoch nicht einmal aufs Standesamt. Sie können den Nachnamen teilen, ihn aber nicht Familiennamen nennen. 40 solche Unterschiede gibt es, sie reichen von Versicherungsfragen bis hin zu Pensionsansprüchen. Auch eine gemeinsame Adoption ist ihnen untersagt – nur die Pflege von Kindern ist ihnen gestattet.
Laut einer Studie der EU unter 70.000 Schwulen und Lesben vermeiden es 43 Prozent der Befragten in Österreich, überhaupt auf die Straße zu gehen. 42 Prozent trauen sich nicht, auf der Straße Händchen zu halten, 23 Prozent erlebten bereits Gewalt oder deren Androhung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, von diesen wiederum wagten 88 Prozent es nicht, dies zur Anzeige zu bringen. 25 verheimlichen ihre sexuelle Orientierung am Arbeitsplatz, 60 Prozent aller schwulen und lesbischen Schüler verheimlichen es in ihren Lehranstalten. „Wir müssen es uns bei jedem neuen Nachbarn oder Kollegen neu überlegen, ob wir es ihm sagen“, betont Schreuder, „das können die Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe einfach nicht nachempfinden.“
Angesichts dieser Situation und der zahlreichen rechten Kräfte in der Politik ist es auch kein Wunder, dass US-Komiker Sacha Baron Cohen seine schräge Mockumentary „Brüno“ in Österreich drehte – die Figur des stockschwulen Möchtegern-Stars nach Köln zu schicken, hätte weniger Fallhöhe geboten als der Versuch, sich aus einem Kellerfenster in den Tod stürzen zu wollen.
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