Eine Ausstellung des Kunstgeschichtlichen Instituts der Ruhr-Universität Bochum im Museum unter Tage in Bochum. Gemeinsam mit seinen Studierenden entwickelte und kuratierte Prof. Dr. Markus Heinzelmann die Ausstellung „Die Kraft des Staunens / The Power of Wonder“.Sechs zeitgenössische Künstler zeigen, wie es aussieht, wenn sich die Materie ihre Kunstwerke selbst erschafft.
engels: Braucht man für die Kraft des Staunens ein Museum?
Markus Heinzelmann:Für das Staunen selbst braucht man kein Museum. Aber wenn man erleben möchte, wie man von der Kunstgeschichte erstaunt wird, dann sollte man ins Museum gehen.
Es geht um den neuen Materialismus in der Gegenwartskunst – was ist denn eigentlich der neue Materialismus?
Der neue Materialismus ist eine Denkrichtung, die etwa seit der Jahrtausendwende existiert. Da geht es um eine Neubewertung des Materials. Material wird im neuen Materialismus nicht als eine passive Masse verstanden, sondern als eine ganz aktive, handelnde Masse verstanden. Die Kunstwerke in der Ausstellung sind Kunstwerke, die in Bewegung sind, die mit Materialien arbeiten wie karamellisiertem Zucker, der durchaus in der Lage ist zu tropfen und den Raum zu erobern.
Das ist aber nicht die Renaissance des Panpsychismus in der Kunst, oder?
Nein, überhaupt nicht. Es hat mehr mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu tun, die uns alle gerade umtreiben. Wie verhalten sich Mensch und Umwelt zueinander. Wir haben ja gelernt, dass der Mensch sich seine Umwelt ordnet, beherrscht, das war eine sehr kurzfristige Perspektive – wir sehen jetzt, wenn wir geologische Prozesse über einen sehr langen Zeitraum betrachten, dass die Materialien ständig dabei sind zu handeln, Entscheidungen zu treffen, und dies ganz unabhängig von uns als Menschen tun. In der Ausstellung geht es auch darum, dass wir als Menschen wieder etwas zurücktreten und den Eigensinn der Materialien anerkennen.
Also doch ein bisschen die Rückkehr zu Ritual und Tabu?
Das ist für uns die entscheidende Frage. Wie arbeiten Künstler heute mit handlungsmächtigem Material. Das Spannende ist, dass sie häufig als Ko-Autoren auftreten. Das heißt, sie sind nicht die alleinigen Schöpfer eines Kunstwerks, sondern das Material ist an diesem Prozess ganz entscheidend beteiligt. Ein Beispiel ist die Arbeit vonIlana Halperin. Siehat sich dort, wo sie in Schottland wohnt, Material aus der industriellen Produktion besorgt, alte Dachziegel, alter Terrakotta, Rohre, und hat sie nach Frankreich gebracht in so genannte kalkifizierende Quellen. Wenn sie dort Objekte in einem Zeitraum von 3-12 Monaten in diesen unterirdischen Quellen lagert, dann sind sie nachher von einer wunderbaren Kalkkruste überzogen. Das heißt sie hat die Erscheinung, wie genau das Kunstwerk aussieht, diesen Keimen und ihren Prozessen überlassen. Sie selber ist nur ein Teil dieser Prozesse.
Das bedeutet, das Ausstellungsobjekt an sich ist dann ein Environment ohne Happening?
Die Frage des Environments, der Umgebung, spielt eine sehr große Rolle bei dieser Ausstellung. Das merkt man bei Agata Ingarden, das ist eine junge, in Polen geborene und in Paris lebende Künstlerin, die eine sehr raumgreifende Installation von zehn Meter Länge gemacht hat und in deren Zentrum steht ein Körper, der überwiegend aus karamellisiertem Zucker besteht. Karamellisierter Zucker reagiert auf seine Umgebung, wenn die Umgebung wärmer wird, dann fängt er im wahrsten Sinne des Wortes an zu fließen und zu tropfen. Wenn es wieder kälter wird, dann verfestigt sich das Material wieder. Das sind Prozesse, die wir in der Ausstellung sehen, die die Umgebung des Raumes sehr stark mit einbeziehen. Insofern ist der Begriff Environment wichtig, er wird heute ökologischer interpretiert als in den 1970er Jahren.
Und bei Ilana Halperin wird sogar ein erkrankter Körper zum Künstler … wegen den Nierensteinen?
Genau. Also ist auch der Mensch, wenn wir über Materialien sprechen, Material. Wir selbst produzieren Nierensteine, Werke an Orten, die wir gar nicht sehen können und da werden Entscheidungen getroffen, die von uns ganz unabhängig sind.
Zumindest ist das konträr zu Joseph Beuys‘ Kunstbegriff.
Ich würde das nicht konträr zueinander sehen. Also die Künstler dieser Ausstellung orientieren sich sicher stärker an Robert Smithson, der ja auch zentral in der Schau zu sehen ist. Aber auch Beuys hat Prozesse wie die Honigpumpe geschaffen oder auch Umgebungen wie die berühmten Eichen in Kassel, die weit über die menschliche Zeit, in der wir normalerweise denken, hinausreichen. Das ist ein anderer Anlass, aber nicht ein Anlass, der dem neuen Materialismus entgegensteht.
Kommen wir zu Superflex. Wenn man sich deren Arbeit anschaut, dann scheint es besser zu sein, segelnde Hochsee-Trimarane zu entwerfen statt Skulpturen für die Betonarchitektur?
Ja, beim dänischen Künstlerkollektiv Superflex sieht man im Grunde, wer langfristig überleben wird. Und das sind nicht die Beton-Architekturen, die hier sinnbildlich für Relikte des menschlichen Handelns stehen. Denn die sind Befestigungsanlagen der Stadt Kopenhagen, kilometerlange Anlagen, die jetzt von Pilzen heimgesucht und zersetzt werden. Und in dem Film geht es um die Frage, wer langfristig überleben wird. Wenn Sie den Film schauen, wissen Sie nachher eindeutig, dass das der Pilz sein wird.
Was sieht denn die Erde, wenn sie auf die Kunst schaut?
Das ist die umgekehrte Perspektive, die mehrere Künstler:innen dieser Ausstellung einnehmen. Dieser Titel bezieht sich auf eine Arbeit von Robert Smithson, der im Jahr 1969 in Rom eine ganze Ladung Asphalt eine Müllkippe runtergeschickt hat, und geschaut hat, wie sich diese Materialien zu neuen Gefügen zusammensetzen. Und MarkusKarstieß,ein Künstler unserer Ausstellung, der hat ein Teil dieser Arbeit wieder ausgegraben und nicht von oben auf das Kunstwerk geschaut, sondern von unten und hat sich angeschaut, wie sich die Natur in den Asphalt eingeschrieben und eigene sehr schöne Formen hervorgebracht hat.
Die Kraft des Staunens / The Power of Wonder | 4.5.-9.10. | Museum unter Tage, Bochum | 0234 322 85 23
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