Das Informel löst sich von klassischen Gestaltungsprinzipien und stellt den offenen Schaffensprozess in den Mittelpunkt. Die Sonderausstellung in Hagen zeigt Werke von 14 Malerinnen und 2 Bildhauerinnen, die diese Richtung der abstrakten Kunst mitgeprägt haben.
engels: Herr Lotz, ist es nicht aus heutiger Sicht absurd, dass in der Kunstgeschichte lange nur Männern ein schöpferischer Drang zugeschrieben wurde?
Rouven Lotz: Die Voraussetzungen waren damals nicht fair, deshalb gab es viel mehr Männer als Frauen in der Kunstwahrnehmung. Das lag nicht daran, dass Frauen nicht die gleichen schöpferischen Fähigkeiten gehabt hätten, sondern es fehlten die Möglichkeiten.
Hat sich daran bis heute was geändert?
Frauen sind nach wie vor genauso schöpferisch tätig wie Männer. Das hat sich gerade nicht geändert. Aber der Zugang von Frauen in kreative Berufe, in leitende Positionen – aber auch ganz konkret – in die akademische Ausbildung hat sich natürlich in den letzten 100 Jahren verändert. Deshalb fällt es heute vielleicht auf, dass mehr Frauen im Kunstbereich tätig sind als noch vor 100 Jahren. Aber gerade hier gibt es immer noch viele Frauen, die belegen können, dass es da die gläserne Decke gibt, die schon in den 1970er Jahren besprochen wurde, und dass es immer noch weniger gute Chancen für Frauen gibt als für Männer. Ich glaube, wir erleben gerade, dass sich das Bewusstsein geänderthat – eine gleichfalls spürbare Ungeduld ist jedoch berechtigt.
Das Informel war eine der wichtigsten Kunstströmungen der Nachkriegszeit, kam aber auch schnell wieder aus der Mode, oder?
Ja, richtig. Natürlich haben Moden und aktuelle Interessenlagen eine hohe Bedeutung, aber Mode allein ist nicht das, was die Relevanz einer Kunstströmung ausmacht. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommt es ja zu einem Pluralismus von Strömungen und Bedeutungen, die so vorher nie vorgekommen sind. Da nimmt es nicht Wunder, dass das Informel so eine kurze Halbwertzeit hatte, aber seine historische Bedeutung bleibt bis heute bestehen. Anhand vieler Künstler:innen kann man sehen, dass das Informel als formale Ausgangssituation bis heute seine Bedeutung hat – auch wenn diese heute Schaffenden genau genommen keine informellen mehr sein können, weil das Informel ja ein abgeschlossener historischer Moment ist. Aber viele der Dinge, die damals entwickelt worden sind, wie die Freiheit der Geste, von Farbe, Material und Form, die sich Künstler:innen, von der Abstraktion kommend, so genommen haben, spielen immer noch eine Rolle. Insofern ist das Informel als historisches Vorbild, aber auch als Kunstströmung bis heute wichtig und gültig.
Wie wird aus abstrakter Kunst informelle?
Es gibt nicht die eine informelle Technik. Das Informel ist ja vor allem eine Idee und eine Art der Herangehensweise an die eigene Kunst. Das gilt vor allem für malende Künstler:innen, aber auch für Bildhauer:innen. Die Abstraktion bekommt diesen „Drive“ der absoluten Befreiung nach dem Zweiten Weltkrieg, was insbesondere auch mit dem Wort Informel zusammengebracht wird. Es ist eine Reaktion auf historische Begebenheiten, aber auch eine bewusste Antihaltung zu Dingen, die man jetzt künstlerisch nicht mehr tun möchte und wo man die Kunst in gewissem Maße von allen Regeln befreien will. Weil man sich absetzen möchte von einer Zeit, in der alles reglementiert und ganz unfrei einem gesellschaftlich-politischen Ziel untergeordnet war. Das ist das, was den Kern der informellen Idee begründet. Sie alle haben dann sehr intensiv an einer persönlichen künstlerischen Form innerhalb der Abstraktion gearbeitet. Deshalb kommt es zu einer so großen Vielfalt von Herangehensweisen und Techniken, die das Informel kennzeichnet.
Die Ausstellung dreht sich um informelle Künstler:innen der 1950er und 60er Jahre. Als Frau musste man sich zu der Zeit die Tätigkeit als Künstlerin leisten können, oder?
Es gab Künstlerinnen, die mit ihrer Kunst Geld verdienen und davon leben mussten. Es gibt auch ein paar, die das geschafft haben. Denken Sie an die auch für die bundesrepublikanische Geschichte wirklich bedeutende Bildhauerin Brigitte Meier-Denninghoff. Das ist eine Frau, die es aus sich selbst heraus geschafft hat, von der Kunst auch zu leben. Denken Sie an die österreichische Künstlerin Maria Lassnig, die mit Informel beginnt und es für sich auch als bedeutende Ausgangssituation beschrieben hat. Ihr Werk wird später abstrakt-figurativ, und hat es vor allem in den letzten Jahren noch zu bedeutendem Ruhm gebracht.
Maria Helena Vieira da Silva war als Erste auf der Documenta 1955, aber die stammte aus einer wohlhabenden portugiesischen Familie, oder?
Ja, das spielt bei vielen Künstler:innen, auch bei Männern, natürlich eine entscheidende Rolle. Das ist aber in jedem Beruf so. Wenn sie finanziell unabhängig sind, einen guten Start in die Wiege gelegt bekommen haben, dann können sie ihre Ausbildung besser vorantreiben, Durststrecken überstehen und manch anderer, der oder die Talent hat, überlebt solche Durststrecken nicht.
Was ist in Hagen zu sehen?
Wir zeigen 16 Künstlerinnen, bei denen wir als Kurator:innen glauben, dass mit ihnen diese Informel-Ausstellung am besten besetzt wäre. Darunter sind zwei Bildhauerinnen, Christa von Schnitzler, die auch mit Familien-„Power“ sozusagen einen guten Start in ihre Karriere hatte, und die vorhin genannte Brigitte Meier-Denninghoff, von der wir hier eben ganz bewusst individuell als Frau erzählen. Und es gibt 14 Malerinnen, die aus Spanien, Portugal, Österreich und natürlich Deutschland, aber auch aus Ungarn und Bulgarien stammen, weil das Informel natürlich kein ausschließlich deutsches Phänomen ist, sondern international, und auch der Begriff letztlich nur eine Orientierungshilfe gibt.
Ist Assoziieren die wichtigste Fähigkeit, die man als Betrachter:in der wilden Gesten haben muss?
Assoziation bedeutet für mich, ich würde selbst unterbewusst oder sehr bewusst, interpretieren, was da dahinterstecken könnte. Als wenn ich mir Wolken anschaue oder einen Rorschachtest mache. Das ist ja beim Informel aber gar nicht das Thema. Man sollte eher versuchen, wenn man informelle Werke anschaut, gar nichts zu sehen oder gar verstehen zu müssen. Das Aufregende am Informel, und das gilt auch allgemeiner für abstrakte Kunst, ist, dass ich beim Betrachten den Umgang eines Künstlers mit Farbe, Form und Fläche oder selbst dem Raum vor mir habe und selbst auch ganz frei sein kann.
InformElle Künstlerinnen der 1950er/60er-Jahre | bis 11.1. | Emil Schumacher Museum, Hagen | 02331 207 31 38
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