Trommelwirbel! Wir schreiben das Jahr 1992 und nach jahrzehntelanger bunt ausgerichteter Annäherung (Wirtschaft, Atom, Kohle etc.) wird der Vertrag von Maastricht unterzeichnet: die Gründung der Europäischen Union! Nein, Moment: nicht Union – Gemeinschaft: Europäische Gemeinschaft vormals Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vormals Westeuropäische Union vormals Westunion. Ziemlich komplex das alles, und das soll sich – „merkwürdige Konstellation der Organe“ (der Podcast Übertage, Folge 123) – auch 2024 nicht ändern. Ab 1992 jedenfalls koordinieren sich fünfzehn verbündete Staaten Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik und in den Bereichen Inneres und Justiz. Und die Mitgliedsstaaten unterwerfen sich allesamt ehernen Werten: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und bürgerliche Grundfreiheiten. Werte, die bindend sind. Also, eigentlich. Die Zukunft soll zeigen, dass sich mancher Wert individuell mit der Kraft des Vetos (Ungarn, vorübergehend Polen), durch einflussreiche Meinungsgeigen (Lobbyismus) oder einfach kollektiv (Frontex) mühelos entwerten lässt. Die Staatengemeinde wächst stetig, in den Nuller Jahren kommen im Rahmen der Osterweiterung noch einmal ein Dutzend Staaten hinzu. 2009 dann endlich: die Europäische Union. Und dieser Staatenbund ist nicht nur ein Bündnis, die EU ist eine „Großmacht“ (Wikipedia). Paukenschlag!
Entwertete Werte
„Ich seh den Sternenhimmel, oh oh“ (Hubert Kah): Gelbe Sterne, blauer Grund. Die Europaflagge wird 1955 erstmals vom Europarat (ja, den gab’s auch noch) gehisst und an die nachfolgenden Bündnisse weitergereicht. Von besonders hohem Wert ist und bleibt dabei natürlich auch in der EU vor allem eins: Geld. So spielt man zwar zusammen, aber auch immer gegeneinander. Befriedete Konkurrenz. Zum Glück aber steht über allem: der Wertekatalog. Nur kommt spätestens 2009 noch ein Wert hinzu: Irrsinn! Irrsinn ist, dass das Parlament aus völlig irren Gründen bis heute allmonatlich zwischen zwei Tagungsstätten hin- (Brüssel) und her- (Straßburg) pendelt– Green Deal lässt grüßen. Weiterer Irrsinn u.a.: Bürokratie-Bombast und Verwaltungs-Overkill. Irrsinn und Segen zugleich ist, wenn sich erst Satiriker ins Europaparlament wählen lassen müssen, um ein Stück Transparenz in die Vorgänge dort zu bringen. Der eine Satiriker zerbricht dabei an dem was er erlebt und geht (Nico Semsrott: „Brüssel sehen und sterben“). Der andere bleibt (Martin Sonneborn: „Herr Sonneborn bleibt in Brüssel“). Sonneborn, Bundesvorsitzender der Partei Die Partei, geht 2024 just in seine zweite Amtszeit im EU-Parlament, das zweite Mandat erhält die Schriftstellerin Sibylle Berg. Anders als die vergnügliche TV-Satire „Parlament“, betreibt Sonneborn Realsatire der besonderen Art, indem er als Abgeordneter Abgeordnete vorführt. Andere beehren das Parlament mit Inkompetenz und auch mal dem Hitlergruß. Sonneborn entlarvt und verhöhnt den Laden am Rednerpult oder dahinter mit Schalk und Witz. Humor ist der Wundverband auf der Empörung Nico Semsrotts. Wir lernen: Um das Europäische Parlament zu überleben, muss man hartgesotten sein. Entweder als korrupter Politiker oder als unbestechlicher Satiriker.
Korrupt und unbestechlich
Es ist an sich verwunderlich, dass inzwischen zahlreiche gutbezahlte Europa-Politiker:innen aus der Union aussteigen wollen. Weil die ganzen „My Country First“-Nationalisten den Grundgedanken nicht erfassen: Dass die Beteiligten „als Rivalen in Frieden zusammenkommen“ mit der Absicht, „etwas zu erreichen, das weit über persönlichen Ruhm hinausgeht“. So beschreibt aktuell Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, das Wesen der Paralympics, das sich gut auf den EU-Gedanken übertragen ließe: Win-Win – es könnte so schön sein! Vor allem, weil, entgegen aller Maulerei von Rechtsaußen, unterm Strich alle Mitgliedsländer noch immer als Kollektiv profitieren. Also, mehr oder weniger und natürlich nicht auf Augenhöhe: Einige sahnen mehr ab (Deutschland), andere weniger (Ost- und Südeuropa). Doch selbst massiv Gedemütigte bleiben (Griechenland). Nur wer als EU-Mitgliedsland fundamental von der EU unterdrückt und durch sie global isoliert wird, wer in Abhängigkeiten ertrinkt, in Bürokratie erstickt, seine Souveränität verliert, sprich: quasi Kolonie wird des EU-Gefüges – der appelliert verantwortungsbewusst an sein Volk, tritt aus und stürzt ab (Vereinigtes Königreich). Ausgerechnet das Vereinigte Königreich ist aktuell Vorbild für jede Menge weitere Protektionismus- und Ego-Kläffer:innen. Dabei hat uns Samy Deluxe schon 2011 dargelegt, dass „oft das, was mein Ego will, nicht gut für meine Seele ist“ („Ego“).
Das Gefüge wackelt, dabei ist doch alles gut gemeint: Die Europaflagge, so heißt es auf der Webseite der EU, „steht im weiteren Sinne auch für die Einheit und Identität Europas“. „In Vielfalt geeint“ ist erklärtes Motto der EU (ebendort). „Ode an die Freude“ ist offizielle Hymne der EU (ebenda). Allerdings „ohne Text“. Also ohne Freude. Für so etwas hat die EU aber zum Glück Martin Sonneborn.
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Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
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Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
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Teil 2: Lokale Initiativen – Die europäische Idee in Studium und Forschung an der Kölner Universität
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Teil 3: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
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