
„Oh nein, wir haben keine Marmelade!“
Sie zucken mit den Schultern.
„Ja, wir wollten doch morgen zusammen frühstücken“, sagt Ihre Partnerin. (Oder Ihr Partner. Diese Geschichte ist eh fiktional. Da brauchen Sie schon etwas Fantasie. Das kriegen Sie schon hin, selbst wenn Sie weder Partner noch -in haben.)
„Na und?“, entgegnen Sie. „Mett ist auf jeden Fall noch da, Käse auch. Ich brauche keine Marmelade.“
„Aber ich!“, sagt Ihre Partner in einem Tonfall, der sich dem eines quengeligen Kindes annähert.
„Du isst doch nie Marmelade zum Frühstück.“
„Aber morgen will ich welche!“ Jetzt fehlt nur noch, dass sie die Backen aufbläst und mit dem Fuß stampft. „Geh doch bitte noch einmal los und hol welche.“
Sie schauen an sich herab. Schlabbershirt und Jogginghose. Eigentlich wollten Sie an diesem Freitagabend nirgendwo mehr hin außer vom Sofa zum Klo und zurück.
Wie entscheiden Sie sich?
Beißen Sie in den sauren Apfel und raffen sich auf, noch einmal einkaufen zu fahren? Dann lesen Sie weiter bei Abschnitt 6.
Versuchen Sie, Ihre Partnerin davon zu überzeugen, dass morgen ein herzhaftes Frühstück – wie immer – auch lecker ist, dann argumentieren Sie weiter bei 7.
2)
Sie fahren auf den riesigen Parkplatz, der zum Glück nur zu zwei Dritteln voll ist, so dass sie „nur“ 200 Meter durch den Regen zum Supermarkt laufen müssen. Dort durchqueren Sie die Gemüseabteilung und zwanzig Gänge mit Fertiggerichten. Alles hier ist riesig, denn große Auswahl will Platz haben. Endlich finden Sie die Brotaufstriche. In irgendeinem der dreizehn dafür designierten Dauerwarenfächer müssen ja die Marmeladen sein …, ja, da sind sie! Welche soll es sein? Erdbeere, Kirsche, Aprikose, Quitte, Guave, Cassis-Spirulina, Apfelkraut? Marmelade, Konfitüre, Jelly oder Fruchtaufstrich? Mit Fruchtstücken, samtig püriert oder extra glibberig? Ohne Zucker, ohne Zuckerzusatz, light oder zero? Bio, vegan oder regional? 300 Gramm für 1,78 Euro? Oder lieber 250 Gramm für 1,59 Euro? Oder direkt auf Vorrat die 600 Gramm für 5,09 Euro? Was macht das pro Kilo? Oh, und die teure Edelmarke ist gerade im Angebot, vielleicht lohnt sich das? Oder gehört die Marke zum Nestlé-Konzern?
Die vielen Wahlmöglichkeiten überfordern Sie. Darauf waren Sie nicht vorbereitet. Auf der Arbeit haben Sie heute schon genug Entscheidungen treffen müssen.
Der Psychologe Roy Baumeister entwickelte das Modell der Willenskraft als Muskel – einer Ressource, die sich erschöpft. Menschen, die viele Entscheidungen treffen müssen, werden im Laufe des Tages messbar schlechter darin. Zum einen wird es anstrengender, zum anderen leidet die Qualität der Entscheidungen.
Sie beschließen, doch zum Discounter in Abschnitt 3 zu fahren.
3)
Der nächstgelegene Discounter ist noch einer von der alten Schule: Er ist billig und sieht auch so aus. Das Sortiment wird erst langsam erweitert. In den Regalen finden sich in erster Linie Produkte der günstigen Hausmarken. Sie navigieren aufmerksam durch die engen Gänge, um in den unübersichtlichen Regalen die Marmeladen zu finden. Da sind sie: Erdbeere, Kirsche, Aprikose, Heidelbeere.
Im Jahr 2000 führten die Psychologen Sheena Iyengar und Mark Lepper ein Experiment durch: In einem kalifornischen Feinkostladen änderten sie die Marmeladenauswahl: An einem Tag standen dort 6 Sorten im Regal, an einem anderen 24. Das paradoxe Ergebnis: Hatten die Kunden weniger Auswahl, kauften sie mehr. Während sechzig Prozent der Kunden bei 24 Sorten stehen blieben, kauften nur drei Prozent tatsächlich ein Glas. Bei nur 6 Sorten hingegen blieben zwar weniger Menschen stehen (vierzig Prozent), aber fast jeder dritte kaufte ein Glas. Forscher sprechen von „choice paralysis“ oder Entscheidungslähmung – gibt es zu viele Wahlmöglichkeiten, sind Menschen schnell überfordert und treffen am Ende gar keine Wahl. Diese Ergebnisse sind berühmt geworden als der Marmeladen-Effekt.
Welche Marmeladensorte wählen Sie? Egal, für welche Sie sich entscheiden, lesen Sie weiter in Abschnitt 5.
4)
Der Tisch ist gedeckt, der Duft von frisch gebrühtem Kaffee hängt in der Luft. Liebevoll blicken Sie Ihrer Partnerin in die Augen, während Sie genussvoll in Ihr Mettbrötchen beißen. Später, beim Tisch Abräumen, weicht die Liebe nur ein ganz klein wenig aus Ihrem Blick, als Sie das unangetastete Marmeladenglas wieder ins Küchenregal stellen.
5)
Zu Hause angekommen, stellen Sie das Marmeladenglas auf den Tisch und drücken ihrer Partnerin einen Kuss auf die Wange. „Bitteschön!“
„Dankeschön, du bist ein Schatz! Aber warum hast du denn diese Sorte gekauft?“
Ja, warum haben Sie das? Manche Gefühle trifft man einfach aus dem Bauch heraus. Bauchgefühle seien nicht bloß eine Metapher, hat man in den letzten Jahren oft aus der Forschung gelesen. Peter Holzer von der Medizinischen Universität Graz aber warnt in einem Artikel von 2022 davor, die Rolle der Darmflora auf Entscheidungen zu überschätzen. Zwar gibt es eine Hirn-Darm-Schranke, über die Botenstoffe zwischen beiden Organen ausgetauscht werden, aber Emotionen werden im Gehirn generiert, der Darm gibt nur zusätzlichen Input. Und obwohl 90 Prozent des „Glückshormons“ Serotonin im Darm produziert werden, gelangt dieses nicht von dort ins Gehirn. Im Darm verursacht es eher Durchfall.
Vielleicht haben Sie Ihre Entscheidung einfach deswegen getroffen, weil Ihnen eine Sorte besser schmeckt als die andere.
Frühstücken Sie am nächsten Morgen, der in Abschnitt 4 anbricht.
6)
Es hilft nix. Damit die Wasserwaage des Haussegens nicht ausschlägt, ziehen Sie sich wieder was Ordentliches an (aber nicht übertreiben, zum Glück wohnt man ja im Ruhrpott, da geht das) und setzen sich ins Auto, um just zum Supermarkt zu fahren.
In dieser fiktionalen Geschichte entscheiden Sie sich bewusst. In der Realität aber wäre eine solche Entscheidung kaum bewusst, sondern wäre eine automatische Antwort auf mehrere sich überlagernde psychologische Impulse. Wenn wir in Beziehungen um etwas gebeten werden, das unseren eigenen Wünschen widerspricht, entsteht eine Art kognitiver Dissonanz, die wir vermeiden wollen. Zudem herrscht in einer Partnerschaft für gewöhnlich das System der Reziprozität, also des gegenseitigen Gebens und Nehmens. Auch das läuft unbewusst ab, genauso wie Ihr Altruismus und empathisches Empfinden. Umgangssprachlich nennen wir diese psychologischen Prozesse Liebe.
Sie nähern sich der großen Kreuzung.
Wenn Sie nach links zum Discounter fahren, der zwar billiger ist, aber weniger Auswahl hat, lesen Sie weiter bei 3.
Wollen Sie stattdessen mehr Auswahl im großen Supermarkt, biegen Sie nach rechts ab zu Abschnitt 2.
7)
„Musst du denn morgen wirklich Marmelade …“, setzen Sie an, bevor Sie den Blick in ihren Augen sehen, der sich mit einem Schlag von quengelig zu mordlüstern gewandelt hat.
Fahren Sie fort bei Abschnitt 6.
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