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Regisseur Christoph Müller (Mitte), mit den Protagonisten Klaus (mit Zwillingsschwester), Elena und Dario (v.li.n.re.)
Foto: David Fleschen

Kein Fall ist gleich

11. November 2016

Premiere der Doku „Stille Not“ vom Medienprojekt Wuppertal am 9.11. im Rex – Foyer 11/16

Wuppertal, 9.11. - Es ein Thema mit großer Bedeutung für die Betroffenen. Doch der Zugang ist schwierig: Zahlreiche Menschen mit geistiger Behinderung leiden an Depressionen. Wie aber kann man erfahren, was sie bewegt und wo die Ursachen für ihre Krankheit liegen? Schon bei Menschen ohne geistige Einschränkungen sind die Ursachen für depressive Erkrankungen oft komplex und für Außenstehende kaum zu durchschauen. Bei geistig Behinderten, die normalerweise schon damit kämpfen, ihre Gedanken und Gefühle nicht in passenden Worten artikulieren zu können, ist die Herausforderung umso größer.

Genau dieser Schwierigkeit nimmt sich der Medienprojekt-Film „Stille Not“, der am Mittwoch im Rex-Filmtheater seine Premiere feierte, an. Die Protagonisten Elena, Klaus und Dario eint das Schicksal, in ihrer jüngeren Vergangenheit durch eine schwierige Phase gegangen zu sein: Plötzlich wich ihr positives Wesen einer traurigen Grundstimmung und die Angehörigen konnten nur darüber mutmaßen, warum sie von einem auf den anderen Tag aufhörten zu lachen, kaum noch auf die Außenwelt reagierten oder teilweise sogar aggressiv wurden.

Was tun? Klaus ist Autist, er kann nicht sprechen. Elena hat, so sagt es ihre Mutter, den Sprachschatz einer Vierjährigen. Nur Dario kann offen sagen: „Ich leide an einer Intelligenzminderung. Es gibt Dinge, die ich gut kann, andere Dinge fallen mir schwer.“ So tritt Dario im Film als eine Art Erzähler und Vermittler auf, der auf der einen Seite ein ähnliches Schicksal durchgemacht hat wie Klaus und Elena, darüber aber andererseits reflektiert berichten kann und damit erahnen lässt, wieso geistig-behinderte Menschen besonders häufig von Depressionen betroffen sind. 15 bis 20 Prozent aller Menschen erkranken im Laufe ihres Lebens an einer solchen Krankheit. Bei Geistig-Behinderten sind es schätzungsweise 60 Prozent.

Durch geschicktes Verweben der drei Geschichten öffnet „Stille Not“ so eine Welt, über die man als Nicht-Betroffener erstaunlich wenig weiß. Behutsam lässt der Film erkennen, dass hinter dem vermeintlichen Manko einer geistigen Einschränkung starke Persönlichkeiten mit komplexer Psyche stehen. Kein Fall ist wie der andere. Klaus, der nicht sprechen kann, erreicht sein Publikum dabei auf der Leinwand mit einer Mimik, die jedem Profischauspieler Konkurrenz machen würde. Elena verblüfft mit ihrem ganz unvermittelt auftauchenden Sinn von Humor. Und Dario sagt immer wieder sehr kluge Sätze, wenn er davon berichtet, wie ihm eine Therapie half, seine Depressionen zu überwinden, seine Schwächen zu erkennen und sich dafür umso mehr an seinen Stärken zu erfreuen. „Irgendwann will ich eine Ausbildung im kaufmännischen Bereich machen“, sagt er voller Zuversicht.

Gleichzeitig proträtiert der Film die positive Energie der Angehörigen und sozialen Betreuer und gibt damit einen Hinweis, wie sich Depressionen erkennen und überwinden lassen: Einlassen auf die Menschen mit geistiger Behinderung. Durch ein sensibles Beobachten ihres Verhaltens können Missstimmungen so frühzeitig erkannt und das Selbstbewusstsein der Betroffenen wieder gestärkt werden. Denn das scheint, so ahnt man zumindest nach dem Film, tatsächlich der Auslöser für viele der Depressionen zu sein: Mangelnde gesellschaftliche Anerkennung, Ausgrenzung und das leider häufig vermittelte Gefühl, weniger Wert zu sein als andere.

„Besteht nicht die Gefahr, diese Menschen vorzuführen?“, fragt eine Besucherin beim abschließenden Filmgespräch, zu dem sich die drei Protagonisten und Regisseur Christoph eingefunden haben. Müller erklärt den sensiblen Prozess, in dem alle Beteiligten schließlich mit voller Überzeugung zugestimmt hätten, an dem Projekt teilzunehmen. Man sieht den Gesichtern von Elena, Klaus und Dario an, dass sie diese Entscheidung nicht bereuen. Sichtlich stolz scheinen sie darauf zu sein, dass man ihrer Geschichte zugehört hat und dass man ihnen nun für ihren Mut applaudiert.

Damit bleibt der Abend nicht nur als ein Aufruf in Erinnerung, depressive Erkrankungen (sei es von Behinderten und Nicht-Behinderten) besser einordnen und behandeln zu können. Der Film ist auch ein grundsätzliches Plädoyer für einen menschlichen Umgang miteinander und erinnert daran, dass ein Satz, wie ihn Klaus‘ Zwillingsschwester auf der Leinwand äußerst, eigentlich selbstverständlich sein sollte: „Klaus ist ein Mensch. Wie jeder andere auch.“

David Fleschen

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