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Fotos: Monika Asmus

Gepflegte Aufmerksamkeit

24. September 2015

Altenpflege ist nicht für alle ein gutes Geschäft – talwaerts im engels-Exil 10/15

Die Pflege in Deutschland ist am Boden. Buchstäblich. Pflegekräfte liegen in Smartmobs am Boden und zeigen so, dass in Deutschland etwas falsch läuft. Der Name der Aktion, „Pflege am Boden“, erklärt sich also fast von selbst. Seit Oktober 2013 liegen sie regelmäßig und erinnern: Pflege geht uns alle an“ und „Pflege kann jeden jederzeit treffen“. Sie fordern vor allem eines: mehr Personal. Auch in Wuppertal ist die Aktion vertreten, sie ist unabhängig ist von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden. Im März 2014 ging es zum ersten Mal auf den Boden: Ein Aufruf an die Gesellschaft und ein Appell an die Politiker, dass dringend Änderungen erforderlich sind. Im Vordergrund stehen Schlagworte wie: Menschenwürde, Empathie, Respekt und Wertschätzung. „Wir wollen die jungen Menschen erreichen“, sagt Anke Bremenkamp, Organisatorin in Wuppertal. „Fakt ist, dass die Anerkennung unseres Berufstandes fehlt. Durch Schichtdienst, kaum Urlaub, geringe bis keine Schichtzulagen und der niedrigen Bezahlung, verliert dieser Job seinen Reiz.“

Zudem werden Stellen nach und nach abgebaut. „Die Personalsituation ist in vielen Einrichtungen in Deutschland höchst alarmierend“, warnt Bremenkamp. „Da sind Fehler vorprogrammiert!“ Christina Herbert, Organisatorin in Köln, fasst es noch dramatischer zusammen: „30.000 Menschen sterben jährlich an MRSA (multiresistenten Krankenhauskeimen). Die Politik nimmt das billigend in Kauf.“ Denn viele dieser Leben könnten mit mehr Personal gerettet werden, sagen Herbert und ihre Kollegen. „Es bleibt einfach keine Zeit für Hygiene.“ Laut Vorschrift müsse man sich nach jedem Patienten 30 Sekunden lang die Hände desinfizieren. Angesichts der Arbeitslast sei das aber schlichtweg nicht möglich. Der Fehler liege im System, sagt Herbert. In Deutschland gibt es drei Pflegestufen, die sich an Richtlinien orientieren, die eine genaue Betreuung und Aufwand an dem Patienten pro Minuten vorsehen. Heißt: Pro Schicht bleiben de facto 20 bis 45 Minuten pro Patient am Tag – je nach Pflegestufe. Zähneputzen: zwei Minuten. Haare kämmen: zwei Minuten. Alles ist genauestens getaktet. Wie funktioniert das in der Praxis? „Gar nicht“, sagt Bremenkamp.

Viele Angehörige werden bei der Pflege hinzugezogen. Fast ein Drittel ist nach Angaben des Landes NRW unterstützend tätig. Sie geben ihren Beruf auf, widmen sich oftmals ganz der Pflege. „Ohne die Hilfe der Familienangehörigen wären wir aufgeschmissen. Ihr Einsatz ist gefordert, sonst würde unser Pflegesystem zusammenbrechen.“ Rund 1,5 Millionen professionelle Pflegekräfte arbeiten in Deutschland. Aber durch Kürzungen ist immer weniger Personal vorhanden. Welcher junge Mensch ergreift heute den Beruf des Pflegers unter solchen Bedingungen? Die Abbrecherquote ist hoch. Etwa 30 Prozent halten bis zum Staatsexamen durch. Während der Ausbildungszeit packen die Schüler von Anfang an mit an, inklusive Nachtschichten und Abruf rund um die Uhr. „Die Schüler sollten unter Anleitung und mit Begleitung arbeiten“, fordert „Pflege am Boden“. „Einem Schüler kann nicht im ersten Lehrjahr die komplette Verantwortung für die Patienten übertragen werden. Sie müssen gefördert, angelernt und begleitet werden.“ Von ehemals fünf Pflegeschulen existieren heute noch zwei in Wuppertal. Das Bundeskabinett plant ab 2016 die Einführung von fünf Pflegegruppen. Bedürftige und ihre Angehörigen sollen mehr Hilfe erhalten und zusätzlich zirka 20.000 Betreuungskräfte eingesetzt werden. Betreuung bedeutet aber nicht Pflege. „Die Betreuer dürfen beispielsweise die Patienten nicht zur Toilette bringen“, warnt Bremenkamp. Aus diesem Grund dürfen Betreuer auch das Essen nicht anreichen. „Sie sind lediglich zur Unterhaltung und Zerstreuung der Patienten in den Heimen eingesetzt.“

Die Zeit läuft: Die Arbeitsbedingungen führen zu hoher Berufsflucht

Die Situation für Wuppertal schätzt Anke Bremenkamp als mangelhaft ein. „Änderungsbedarf besteht auch hier – wie in jeder anderen Stadt. Der Berufsmarkt ist erschöpft. Es gibt keinen Ersatz, keine Arbeitskräfte mehr.“ Die unattraktiven Arbeitsbedingungen führen zudem zu einer hohen Berufsflucht, statistisch gesehen verlassen Pflegekräfte nach acht Jahren bereits ihren Beruf. Nicht so Christina Herbert, Organisatorin der Kölner Smartmobs. Sie ist 60 Jahre alt und seit 43 Jahren in der Krankenpflege. Und sie liebt ihre Arbeit: „Ich helfe einfach gerne.“ Doch seit Jahren gäbe es eine Abwärtsbewegung. „In den 70ern war noch alles gut, doch seit 1995 wird es immer schlimmer.“ Zum Teil dafür verantwortlich seien die „Diagnosis Related Groups“, oder auch Fallpauschale genannt. Sie bestimmt, wie viel Geld für Patienten je nach Gruppe (beispielsweise Blinddarmerkrankung) zur Verfügung steht. Dabei wird allerdings nicht der individuelle Fall berücksichtigt, sondern ein Pauschalbetrag ausgezahlt; ist dieser ausgeschöpft, gibt es kein zusätzliches Geld. „Die Pflege fällt meistens gar nicht darunter. Es wird auch nicht berücksichtigt, ob Komplikationen auftreten oder nicht“, erzählt Herbert.

Der Grundgedanke: Der eine Patient bringt ein Plus in der Kasse, der andere ein Minus. Doch wie viele Pflege-Einrichtungen gibt es in Wuppertal? Marianne Krautmacher, Fachbereichsleiterin vom Ressort Soziales der Stadt Wuppertal: „In Wuppertal gibt es derzeit 68 ambulante Pflegedienste, zwölf Tagespflegeeinrichtungen, vier explizite Kurzzeitpflegeeinrichtungen, darüber hinaus in fast allen vollstationären Pflegeeinrichtungen sogenannte eingestreute Kurzzeitpflegeplätze und 41 stationäre Dauerpflegeeinrichtungen.“ Am Stichtag 15. Dezember 2011 seien laut Pflegestatistik 10.767 Personen pflegebedürftig gewesen. „Davon lebten nur 3510 Personen in vollstationären Dauerpflegeeinrichtungen.“ Wie viele Menschen werden in den kommenden Jahren pflegebedürftig sein? „Es existieren verschiedene Prognosen, zum Beispiel der Themenreport Pflege 2030 der Bertelsmanns-Stiftung. Man geht davon aus, dass in Wuppertal im Jahre 2030 12.991 Pflegebedürftige leben werden“, sagt Marianne Krautmacher. Es werde immer mehr Arbeit für immer weniger Personal, sagt Birgit Kleefeld, 37 Jahre alt und Krankenschwester. Sie liegt auf dem Boden, weil sie etwas ändern möchte. Bis zu 40 Patienten müsse sie alleine in einer Nachtschicht pflegen – „man vergleiche das mal mit Äthiopien, wo sich eine Schwester um durchschnittlich vier Patienten kümmert.“ Wie solle sie standardisierte Arbeitsabläufe bei dem Zeitdruck einhalten? Und zusätzlich hauswirtschaftliche Tätigkeiten wie Betten machen? Es wäre bereits ein Schritt in die richtige Richtung, diese Aufgaben den Pflegekräften abzunehmen. Doch es wäre nur ein kleiner Schritt. „Pflege am Boden“ fordert insgesamt auch strukturelle Änderungen – auch von Seiten der Betroffenen. „Nehmt eure Rechte als Arbeitnehmer wahr. Schließt euch als Team zusammen. Nur wer mit anderen an einem Strang zieht, kann etwas erreichen. Seid nicht rund um die Uhr erreichbar.“

Der Widerstand wächst, wie auf dieser Protestveranstaltung in Köln

Jannick Jahnke, 26, Krankenpfleger auf der Intensivstation des Helios Krankenhauses in Barmen, engagiert sich nicht bei „Pflege am Boden“. „Ich finde die Aktion albern. Das ist ein netter Gag, aber er bringt nichts.“ Sich als Team zusammenschließen – ihm zufolge hat das nur im Rahmen einer Gewerkschaft Erfolgschancen. „Die legen sich auf den Boden – das tut der Geschäftsleitung aber doch nicht weh. Solange sie es nicht in ihrer Arbeitszeit tun, ist das denen doch egal.“ Der Gedanke sei nett, genau wie der Symbolcharakter, die Umsetzung jedoch ineffektiv. „Wenn sich alle bei ver.di organisieren würden, könnte viel schneller etwas erreicht werden.“ Christina Herbert ist währenddessen überzeugt, dass „Pflege am Boden“ bald Früchte tragen wird. „In Düsseldorf haben wir vorm Landtag einen Smartmob organisiert. Und plötzlich kamen dreißig Politiker und haben uns zugehört.“ Doch das kann nur ein kleiner Schritt des Weges sein, den „Pflege am Boden“ liegend beschreitet. Die Unterstützung vorbeiziehender Passanten haben sie jedenfalls. „Fast jeder hat einen Pflegefall in der Familie, oder es kann einen selbst treffen. Da ist es beängstigend zu wissen, dass Hygienevorschriften nicht eingehalten werden können, oder Patienten aus Zeitmangel sediert werden“, sagt Kleefeld.

Kerstin Eiwen, Stephanie Licciardi

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