Die Video-Oper des Komponisten Steve Reich und der Videokünstlerin Beryl Korot, uraufgeführt 2002, reflektiert, wie moderne Technik binnen 100 Jahren die Welt verändert hat. Ein Gespräch über Publikumsfragen und darüber, wie nah eine Inszenierung der Gegenwart kommen muss.
engels: Herr Schneider, wieder kehrt in Wuppertal die Oper „Three Tales“ über die Macht des ungezügelten Fortschritts auf den Spielplan zurück. Was verändert sich von Wiederaufnahme zu Wiederaufnahme?
Berthold Schneider: Das ist für uns wahnsinnig spannend, weil sich die Welt ja gerade erdrutschartig weiterdreht. Wir treten aktuell mit der Entdeckung der Künstlichen Intelligenz in ein neues Zeitalter ein. Das beeinflusst allgemeine Bereiche durch die Zugänglichkeit für Jedermann. Wenn die Autoren Steve Reich und Beryl Korot dieses Stück heute schreiben würden, wäre das bestimmt der vierte Teil, das wäre dann „Four Tales“: Die Künstliche Intelligenz steht da ganz klar an der nächsten Stelle.

Wie lange bleibt ein Musiktheaterstück neu, auch bezogen auf die Musik?
Das ist von Stück zu Stück anders. Es gibt meistens Aspekte, die deutlich ihrer Zeit voraus sind, aber auch welche, die ihrer Zeit verhaftet sind, das sieht man bei „Three Tales“ besonders an der Videoästhetik. Da sieht man ganz klar, dass das Stück aus den 1990er Jahren stammt, das würde man heute sicherlich anders machen. Dann gibt es ganz viele Bereiche wie die Musik sowie den ganzen philosophischen Background, die überhaupt nicht gealtert sind. Da könnten Sie sagen: Wir stellen uns dieselben Fragen, jetzt aber für den Bereich Künstliche Intelligenz.
„Aspekte, die deutlich ihrer Zeit voraus sind“
Müsste man dann nicht KI in das Stück einbauen?
Wenn man das Stück heute schreiben würde, ganz sicher. Aber man kann sich dieses Stück auch so anschauen und unsere Zuschauer sind ja durchaus in der Lage die Themen zu übertragen. Das Stück ist so reich in der grundsätzlichen Frage, wie wir mit neuer Technik umgehen und was wir dabei beachten sollten. Damit taucht man ganz tief in eine mehrtausendjährige Philosophie- und Religionsgeschichte hinein, so dass es heute immer noch wertvoll ist, sich mit diesem Stück auseinanderzusetzen. Auch wenn die Autoren noch nicht wissen konnten, dass eine Künstliche Intelligenz mal erfunden wird.
Auch im Epilog am Ende ist das dramaturgisch nicht möglich?
Das würde ich den Autoren überlassen. Wenn die sich nochmal dransetzen würden, dann wäre das sicher spannend. Aber man wäre natürlich auch in der Ästhetik jetzt woanders, vielleicht wäre es dann doch sinnvoller, nochmal ein ganz neues Stück zu schreiben.
„Die Musik erwächst teilweise aus dem gesprochenen Text“
Für die Leser:innen, die dieses Musiktheaterstück nicht kennen: Ist der dazugehörende Videoscreen unveränderbar, und sind die Bilder Teil der Komposition?
Absolut, ja. Es ist undenkbar das zu trennen. Das geht so weit, dass nicht nur die Bilder und die Musik eine Einheit bilden, sondern die Musik erwächst teilweise aus dem gesprochenen Text. Es handelt sich bei dem Text um Interviews oder Dokumentarmaterial, das ist kein Text,den sich jemand ausgedacht hat. Die Interviewsequenzen, die aufgenommen worden sind, wurden dann von Steve Reich in Musik umgewandelt. Aber auch der Text wird manchmal langsamer abgespielt, daraus werden dann Geräusche, gleichzeitig werden Textmelodien in die Musik übernommen. Es ist ein ganz stark verwobenes Geflecht, das seinen Ausgangspunkt immer in dem Text hat, der wiederum mit den Bildern zusammenhängt, denn ich sehe ja die Sprecher.
Was lehrt die Zuschauer:innen diese subjektive Hermeneutik des 20. Jahrhunderts – weil das ist es wohl, oder?
Ich glaube, dass es bei diesem Stück gar nicht so sehr darum geht etwas zu verstehen, es geht eher darum, etwas in seiner ganzen Dimension zu erfassen, und da ist das Musiktheater unglaublich stark. Dieses Stück natürlich auch. Wir erfahren vielleicht ein paar kleine neue Fun Facts, die uns diese technischen Gegebenheiten näher bringen, aber eigentlich ist es so, dass wir im Stück plötzlich emotional mitgehen. Wenn wir sehen, dass da Menschen umgesiedelt worden sind, damit man Inseln im Pazifik in die Luft sprengen konnte, beispielsweise im Bikiniatoll. Oder dass sich die Zuschauer fragen, was passiert, wenn sie sich klonen lassen würden. Das sind Fragen, die ist erst einmal wichtig sind. Aber wenn ich dann jemanden höre, der im Rhythmus sagt, „the human body is a machine, is a machine, is a machine“ – das dringt so in mich ein, die Thematik hat dann einfach eine ganz andere Dringlichkeit, die ich spüren und emotional erleben kann.
„Genau der richtige Raum für dieses Stück“
Ist die Wuppertaler Oper für so eine Art (experimentelles) Musiktheater nicht etwas zu groß?
Dieses Stück ist ja vor seiner ersten Aufführung in Wuppertal nur auf Festivals gelaufen, weil der technische Aufwand eben sehr, sehr hoch ist. Und gerade in den 1990er und auch 2000er Jahren war es fast nicht möglich, das technisch an einem Haus umzusetzen. Wir sind an einem Zeitpunkt gestartet, an dem die Technik so weit war. In unserer Inszenierung sitzt das Publikum auf der Bühne und die Videoinstallation ist um das Publikum herum gebaut. Zum Schluss erlebt das Publikum das gesamte Haus mit dem leeren Zuschauerraum und die Menschen, die da abwesend sind, als die betroffenen Objekte der neuen Technik. Ich glaube, das ist sehr eindringlich. Deswegen ist das Opernhaus nicht zu groß, es ist genau der richtige Raum für dieses Stück.
Three Tales | 8.6.(P), 9.6. je 19.30 Uhr, 18.6. 20 Uhr | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66
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