Ist es so, dass das 99. Katzenvideo hintereinander gesehen einen Brechreiz auslöst? Keine Ahnung, aber rund 600 Millionen Mal wurde weltweit der Hashtag #cute benutzt. Bis jetzt. Und ein Ende ist nicht absehbar. Das Süße an sich in einer bedrohlichen Welt? Könnte man verstehen. Blöd nur, dass sich auch die ewig Gestrigen mit dem Monchichi-Effekt bemühen, neue Rekruten für irgendein Phantasia-Land tollzuschocken. Das NRW-Forum in Düsseldorf jedenfalls beschäftigt das „Süße“ an sich und zeigt mit „#cute. Inseln der Glückseligkeit“ eine große Ausstellung über kluge Warenästhetik und böse Geschmacksverirrung. Lauschen wir gleich mal Dr Cute (2019) alias Rachel Maclean, die uns in fünf Minuten mal eben die dafür benötigten Begriffe per Video erklärt, wenn wir das Monsterflauschige in den Bildern überhaupt aushalten können.
Fummelige Ministeck-Mitmach-Pandas
Monsterflauschig, monstersüß, dass kennt man in der Landeshauptstadt schon seit dem „Gefährliche Clowns“-Song von Der Plan, wo die 1979 „am Straßenrand stehn´“. Auch Krusty bei den Simpsons ist nicht wirklich niedlich. Dieser Effekt, ausgelöst durch eine Überdosis „cuteness“ – immerhin fällt der erste Blick in dieser Zuckerwelt auf zwei süße Pummelbabys im Kohl-Outfit (nicht Helmut!) von Anne Geddes – führt zwangsläufig zu Bildfindungen wie sie Katie Torn in ihrer 3-Kanal-Videoinstallation „Low Tide“ (2016-17) findet. Gruselig, nee, irgendwie nicht, der Blick auf die fummeligen Ministeck-Mitmach-Pandas ist schlimmer. Animal Cuteness nennt man diese zeitgenössische Abart, die schon Jeff Koons zu aufgeblasenen Kunststoff-Hunden und Stahl-Hasen (einer wurde gerade für absurde 91 Millionen US-Dollar versteigert) inspirierte. In Asien geht die Manga-Anime-Kultur mit ihren Auswüchsen in Cosplay und Devotionalien-Handel ähnliche Wege der Vermarktung, allerdings auf einem anderen Niveau als die üblichen Instagram-Kaspereien. Passend dazu die schöne weiße „Heldensammlung“ von Daniel und Geo Fuchs für „Toygiants“ (2004-2008). Very cute.
Die erste Knarre in pink
Wie weit diese Strategien der Umwidmung von Harmlosigkeit gehen, zeigt die Fotoarbeit (auf Aluminium, 2013) von An-Sofie Kesteleyn fast unbemerkt. Zu sehen ist ein kleines Mädchen auf einer riesigen grünen Wiese irgendwo auf der Welt (und das sind natürlich die USA), die ein längliches rosa Täschchen schleppt. Darin, und das erklärt auch den Titel der Serie „My First Rifle“, sogenannte Crickett Rifles. Gemacht für schießwütige Kids zwischen fünf und zwölf, leichtgewichtiges 22er-Kaliber und alles in schicken Neonfarben. Das ist nicht süß, das ist richtig übel. Dagegen machen sich die Monsterpuppen um den Besucher herum wie Scherzartikel aus. Sehr schön übernatürlich dagegen der bittersüße Dreier „Supernatural“ von Uli Westphal, der die Werbebilder auf Lebensmittelverpackungen zu bunten, in der Mitte gespiegelten Landschaften verwoben hat. Auch Lidl, Aldi und Netto (2010) werben boshaft mit dem Etikett des Paradiesischen.
Mein absolutes Highlight ist das kleine „Europe-Europe #1 (Businessman on Toy Factory) vom russischen Künstler*innen-Kollektiv AES+F aus Porzellan (2007-08) in einer Vitrine. Das ist Hypercuteness-Kitsch mit ernstem Hintergrund in perfekter Technik (Jeff Koons wäre beeindruckt). Schauen Sie es sich unbedingt an.
#cute. Inseln der Glücksseligkeit | wieder 1.12. - 10.1. | NRW-Forum Düsseldorf | 0211 56 64 27 49
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