Instrumente stimmen, Kindergebrabbel, ein ungeschmückter Tannenbaum, über eine Papphäuserwand flimmert Werbung von Chrysler bis Kodak aus den 1950ern. Und in die Zeit hat Regisseur Henner Kallmeyer auch die Handlung verlegt, die zwar offensichtlich an der ARD-Dauerbrenner-„Weihnachtsgeschichte“ von Francis Hodgson Burnett lehnt, aber ein paar eigene Aspekte mit verhandelt. Aber Ruhe. Es geht fulminant los im Wuppertaler Theater am Engelsgarten. Die Band aus sieben Musikern und dem Leader William Shaw am Piano lässt Raum und Kinder erzittern. Der Waliser Shaw ist Korrepetitor in Wuppertal und hat die klasse expressive Musik eigens für „Der kleine Lord“ geschrieben, sie untermalt Stimmungen und gibt den Takt vor für zahlreiche Slapstick-Choreografien.
Erster Schrei ist der im Kindersitz eines Einkaufwagens sitzende – besser eingeklemmte –Gemischtwarenhändler Mr. Hobbs, den Martin Petschan spielt, der auch später glänzend den alten Grafen von Dorincourt mimt. Der hat lautstark was gegen Grafen, Lords und aufgeblasene Aristokraten-Tyrannen, er liest Zeitung und rollt mit seinem kleinen Laden durch das frühe New York mit dem Schuhputzer Dick und dessen arbeitsscheuen Partner Bob. Hier lebt Cedric (Julia Meier), dessen Mutter in wohl in einem der vielen Rollschuh-Diner arbeitet. Niemand hat es hier leicht und so ist die Aufregung groß, als der kleine Cedric der neue „Lord Fauntleroy“ in England werden soll. Hier inszeniert Henner Kallmeyer die quirlige Straßenszene wie ein Musical ohne Stücke. Alle Personen werden vorgestellt durch kleine Szenen, immer wieder zerstört eine ziemlich schrille schwangere Kundin (Silvia Munzón López) die Dialoge, das ganze fließt vor den Augen hin und her und dazu gibt es die donnernde Musik von der Liveband neben den Kulissen. Die ganz kleinen im Publikum sind etwas überfordert, aber das Visuelle hält sie in Bann.
So weit, so gut. Cedric fährt mit Mr. Havisham nach England, seine Mutter bleibt anders als in der Vorlage erst einmal zurück, aber sie telefonieren täglich, während Cedric den alten Grafen umkrempelt. Die Bühne hat sich im Kreis gedreht, zeigt nun das Kaminzimmer des Schlosses, in dem der junge New Yorker nicht die Konventionen des alten Adels, sondern lieber das Platt der einfachen Bauern lernt. Auch hier lässt die Regie dem Sentiment nur bedingt Raum und Ruhe, immer wieder wird das Melancholische vom Chaos verdrängt, immer wieder lassen kleine Gimmicks wie die das Ponyreiten um das Anwesen – großes Kino mit Mokka und Silberstreif, der alten prächtigen Stute mit Gehhilfe – oder der alte Hund Dougal als Diener, der partout nicht das Stöckchen holen will, die Kinder und Jugendlichen in den Zuschauerreihen kreischend atemlos werden. Der Graf von Doringcourt tut längst Gutes, ohne es anfangs wirklich zu wollen, doch sein amerikanischer Enkel hat sein Herz längst erobert, die Mutter darf (immer noch auf Rollschuhen!) kommen, das Stück scheint dahin zu fließen. Also: Henner Kallmeyer generiert eine schrille dramatische Wende. Eine sehr falsche Frau (sehr chic und wortgewaltig: Konstantin Rickert) will mit ihren zwei missratenen Söhnen das Erbe an sich reißen, die ganze Sache wird gefährlich, doch Cedrics Kumpel, der Schuhputzer Dick, rettet alles.
Ein gelungener Abend mit grandioser Musik und einem überaus spielfreudigen Ensemble, na klar, Klatschmarsch bei der Premiere.
„Der kleine Lord“ | R: Henner Kallmeyer | 3.12. - 5.1. | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66
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