Kunstblut spritzt in die Menge. Flugblätter flattern durch den Saal. Darauf steht: „Multikulti tötet“. Innerhalb von sieben Minuten entrollen unbekannte AktivistInnen noch Transparente und Fahnen der Identitären Bewegung. Dann ist der Spuk vorbei. Doch die Aktion sitzt. In den Medien spricht kaum wer über die Theateraufführung. Die neofaschistischen Hipster haben die Inszenierung 2016 mit ihrer koordinierten Aktion in den Schatten gestellt. Geflüchtete aus Syrien, Irak oder Afghanistan standen für Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ auf der Bühne. In dem Dauerbrenner der linken Literaturnobelpreisträgerin sahen die Rechten ein Symptom für einen angeblichen Mainstream-Multikulti-Diskurs.
AnhängerInnen der Identitären Bewegung finden ihre Rhetorik sicher bestätigt, wenn sie in die „Erklärung der Vielen“ schauen, die jüngst weit über hundert Kultureinrichtungen unterzeichnet haben. KünstlerInnen und Theaterschaffende wollen sich damit gegen den Druck wehren, den sie von Rechts spüren. „Vielfalt“ soll rechter Demagogie entgegengesetzt werden. Und Johan Simons bediente sich bei der Spielzeit-Eröffnung des Bochumer Schauspielhauses ähnlicher Argumente: „Vielfalt statt Einfalt“, so der neue Intendant. Spult da ein Kulturestablishment immer wieder die gleichen Diskurs-Versatzstücke ab? Spenden Linke und Liberale warme Worte, während Rechte und Reaktionäre zum „zivilen Widerstand“ gegen eine verfremdete, globalisierte Welt blasen?
Zumindest erscheint auch 2018, im Jubiläumsjahr der 68er-Bewegung, vieles in dieser Hinsicht auf den Kopf gestellt: Klar, wer sich selbst als weltoffen und tolerant betrachtet, reserviert sich ein günstiges Flixbus-Ticket, um beim Konzert in Chemnitz dem eigenen Antirassismus zu huldigen. Oder schiebt den Kinderwagen beim Spaziergang durch den Hambacher Forst, um die eigene ökologische Haltung zu demonstrieren. Doch was hat diese Partizipation noch mit Zivilem Ungehorsam zu tun?
Dieser abstrakte Oberbegriff fasst viele Facetten des Protestes zusammen: Happenings, Flashmobs oder Sitzstreiks – was Bürgerrechtler wie Gandhi oder Martin Luther King einst vorgemacht haben, wurde in der 68er-Bewegung begeistert aufgegriffen. Ziviler Widerstand markierte für viele AktivistInnen eine bewusste Grenzüberschreitung, ob kreative Provokation oder gewaltfreier Rechtsbruch, ob Aktion oder Wort. Aus dieser Schwellenerfahrung zog Michel Foucault die Bilanz, in der er Kritik als Kunst definierte, sich nicht derart regieren zu lassen. Freiräume und damit Vielfalt sollten errungen, nicht (bloß) verteidigt werden.
Foucaults Schnittstelle zwischen Kritik und Diskurs, zwischen Aktion und Repräsentation scheint heute sehr umkämpft zu sein. Auf der einen Seite rezipieren (neu)rechte Figuren wie Götz Kubitschek oder Martin Sellner Klassiker wie den italienischen Marxisten Antonio Gramsci, um eine vermeintliche linke Hegemonie einzureißen. Neue Formen des Zivilen Widerstands finden sich jedoch bei NGOs, die mit Kampagnen indigene Völker unterstützen (siehe Interview auf der folgenden Seite). Auch das Berliner Peng!-Kollektiv überschritt zuletzt die Grenzen der Bühnenunterhaltung und stellte illegale Ausweise für Geflüchtete aus. Mehr als warme Worte.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/138267/protest-und-beteiligung | Eine Sammelschrift zu Konzept und Praxis des zivilen Ungehorsams bei der Bundeszentrale für politische Bildung.
sea-shepherd.de | Die militanten Walschützer sind umstritten, die Ziele, für die sie eintreten, werden von vielen geteilt. Hier informieren sie über ihre Aktionen auf hoher See.
institut-fuer-menschenrechte.de | Für Menschenrechte einstehen – in vielen Ländern bedeutet das Gefahr für Leib und Leben. Das IfM setzt sich als unabhängige Stelle für Einhaltung und Förderung von Menschenrecht-Standards ein.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Radikale Forderungen. Friedlicher Protest“
Menschenrechtsaktivistin Linda Poppe über legitimen Widerstand und den Hambacher Forst
Widerstand gestern und heute
Gedenken und Erforschung sozialer Bewegungen im Bergischen
Aktive Zivilgesellschaft
Deutschlands demokratische Gegenöffentlichkeit
Die Friedensförderer
Österreich unterstützt humanitäre Hilfe weltweit
Zwischen den Kriegen
Wann wird Frieden der Normalfall?
Es wird ungemütlich
Die Russland-Sanktionen werden Armut und Krisen weltweit verschärfen
Fangen wir an, aufzuhören
Sicherheitspolitik auf Kosten der Umwelt
Raubkultur?
Kulturgut und koloniales Erbe
Blutiges koloniales Erbe
In der Klemme: Das Humboldt-Forum zwischen Geschichtsrevisionismus und Restitution
Sind Namen Schall und Rauch?
Umstrittene Denkmalkultur im öffentlichen Raum
Die hormonelle Norm
Zu den Herausforderungen des weiblichen Führungsanspruchs
Eine Klasse für sich
Ein Feminismus, der sich allein auf Vorstandsposten kapriziert, übt Verrat an Frauen
Mensch ist nicht gleich Mann
Gendermedizinisch forschen und behandeln
Digitale Booster menschlicher Dummheit
Im Netz sind wir nur eine Filterblase voneinander entfernt
Du bist, was du klickst
Meinungsbildung im digitalen Raum
Links, zwo, drei, vier
Der Rezo-Effekt als wichtige Erkenntnis für progressive politische Arbeit in Sozialen Medien
Kleider aus Milchfasern
Neue Möglichkeiten der Nachhaltigkeit
Die deutsche Müllflut
Deutschland ist Spitzenreiter bei der Produktion von Verpackungsmüll
Willkommen in der Komfortmüllzone
Alternativen zur Wegwerfkultur
Lösung statt Lähmung
Sich um die Zukunft zu sorgen, heißt, sie selbst in die Hand zu nehmen
No Future?
Die Jugend auf der Suche nach politischem Gehör
Vom Protest zum Widerstand
Andreas Malms Widerstands- und Sabotagekonzeption hat erschreckende Leerstellen
Was Musik, Film und Energietechnik gemeinsam haben
Die Zukunft der Energie ist vielfältig und nicht fehlerfrei. Gut so!
Die Sonne und Du
Chancen der Solarenergie
E-Autos auf Kohlestrom
Der stockende Ausbau der Windenergie konterkariert die Energie- und Verkehrswende