Heinrich Bölls Roman erschien 1974 auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors. Die Titelheldin Katharina Blum schläft mit einem Mann, der fälschlich des Terrorismus verdächtigt wird. Die Boulevardpresse greift den Fall auf und zerstört systematisch Blums Ruf, bis diese schließlich den verantwortlichen Journalisten erschießt. Hintergrund des Romans bildeten die Erfahrungen von Böll und seinem Sohn Raimund mit der Berichterstattung der Bild-Zeitung. Bastian Kraft dramatisiert den Roman nun am Schauspiel Köln.
engels: Herr Kraft, Sie haben gerade Thomas Manns Roman „Die Buddenbrooks“ auf die Bühne gebracht. Außerdem laufen von Ihnen derzeit auch Dramatisierungen von Manns „Zauberberg“ und Oscar Wildes „Dorian Gray“. Was interessiert Sie an der Dramatisierung epischer Texte?
Bastian Kraft: Es ist in jedem spezifischen Fall eine neue Entscheidung, auch weil die Inszenierungen ganz unterschiedliche Formen annehmen. Aus den „Buddenbrooks“ ist ein recht klassisches Theaterstück geworden, dessen Szenen über Dialoge erzählt werden. Und diese Dialoge stehen bereits im Roman, der über weite Strecken wie ein Theaterstück geschrieben ist. In „Katharina Blum“ gibt es dagegen wenig Dialoge oder theateraffine Texte. Und da stellt sich tatsächlich die Frage, welche spezifische Form wir dafür finden. Dieses Erfinden der Form sowie die Art und Weise, wie das auf der Bühne aussieht, ist ein sehr aufregender Prozess. Darüber hinaus bin ich oft inhaltlich stärker zu Romanen hingezogen, weil da die die Psychologie der Figuren aus der Innenperspektive beschrieben wird. Und diese inneren Vorgänge auf der Bühne erlebbar zu machen, ist einen tolle Herausforderung.
Nun kommt Bölls Roman, Sie haben es gerade schon angedeutet, ziemlich schmucklos und nüchtern daher, fast wie ein fiktiver Tatsachenbericht. Wie nähern Sie sich dieser literarischen Form?
Schon Böll wählt eine Art fake-dokumentarischen Ansatz. Es ist Fiktion, die sich in das Gewand des Dokumentarischen kleidet. Das finde ich sehr spannend, denn Fake-Realität funktioniert zwar im Film sehr gut, aber im Theater ganz und gar nicht, weil die Künstlichkeit der Bühne die ganze Zeit spürbar bleibt. Genau das macht den fake-dokumentarischen Ansatz aber für mich auch inszenatorisch reizvoll. Vor allem, weil der Kern des Textes um die Frage kreist: Was ist wahr und was ist falsch auf der Ebene der Nachrichten? Also all das, was seit der Ära Trump in dem Begriff Fake News zusammengefasst wurde. Gleichzeitig kann das Theater die emotionalen Zustände der Figuren besonders gut spürbar machen. Denn es ist gerade eine der Stärken des Romans, dass er mich als Leser sehr empathisch werden lässt mit einer Mörderin.
Böll zielte mit seinem Roman auf Erfahrungen, die er und sein Sohn Raimund mit der Bild-Zeitung gemacht hatten. Ist diese Erfahrung übertragbar in die digitale Welt mit ihren Fake News?
Die Auseinandersetzung mit Mechanismen und Themen einer medialen Wirklichkeit, damals konkret mit dem Boulevardjournalismus, haben sich sicherlich verändert, aber im Kern sind es die gleichen Probleme geblieben: Welcher Information kann ich trauen? Was ist überhaupt die Rolle der Medien? Sind Auflage oder heute Clickbait wichtiger als inhaltliche Seriosität? Und vor allem: Was macht es mit dem einzelnen Menschen, der in die Mühlen der Medien gerät und dem sein äußeres Ich aus den Händen gleitet?
Während das Grundgesetz immerhin von der „Würde“ eines Menschen spricht, benutzt Böll im Titel seines Romans den etwas antiquierten Begriff der „Ehre“, die angetastet worden sei. Was meint Böll damit?
Das ist ein Wort, das in meinem Sprachgebrauch kaum vorkommt und für mich selten relevant war. Wenn ich den Text lese, werde ich tatsächlich sehr schnell empathisch mit Katharina Blum und kann ihre große Not nachvollziehen. Ich würde es allerdings eher so beschreiben, dass ihr die Kontrolle über einen Teil ihrer Identität entzogen wird. Der Text beschreibt genau, wie sehr wir darauf angewiesen sind, dass der Blick der anderen auf uns mit unserer Selbstwahrnehmung bis zu einem gewissen Punkt zur Deckung kommt. Und die Kontrolle über diesen Blick von außen entgleitet Katharina durch die mediale Berichterstattung. Es ist tatsächlich gar nicht so viel passiert vor ihrem Mord an dem Journalisten Tötges. Trotzdem hat sie das Gefühl, ihr Leben sei damit zerstört. Und das fasst Böll in diesen Begriff der Ehre. Es hat also mit dem Blick der anderen auf uns zu tun und was sie in uns sehen.
In welcher Zeit spielt Ihre Inszenierung?
Wir haben zu Beginn der Proben viel darüber gesprochen, wie modern der Stoff eigentlich ist. Es steht allerdings für uns außer Frage, dass wir diese Geschichte in den 1970er Jahren belassen. Sie eignet sich nicht dafür, ins Heute übertragen zu werden. Allerdings habe ich oft das Gefühl, dass die Distanz zu einem Stoff es in vielerlei Hinsichten erleichtert, über die Gegenwart nachzudenken. Wir haben uns in unseren Gesprächen auch gefragt, was denn eine angemessene Geschichte heute wäre. Ein Stoff, in dem eine moderne Katharina Blum in einem Shitstorm landet, würde sich doch sehr an die Gegenwart anbiedern. Bleibt ein Text, der den Kern dieser Phänomene sehr hellsichtig beschreibt, in der historischen Distanz, scheint mir das aufschlussreicher. Ich empfinde also die Lokalisierung in der Vergangenheit überhaupt nicht als Hindernis, weil diese Transferleistung das Theater gerade so aufregend macht. Und das gilt für einen antiken Stoff genauso wie für Heinrich Böll.
In den 1970er Jahren wurde noch diskutiert, ob Polizistinnen Waffen tragen dürfen. Böll lässt genau in dieser Zeit eine Frau zu einer Waffe greifen und einen Mord begehen. Was lässt sich aus dem Roman herauslesen, wenn man ihn aus geschlechterpolitischer Perspektive analysiert?
Jenseits der Kritik einer Medienumwelt bietet Bölls Roman eine ganz starke Analyse des Sexismus in einer patriarchalen Gesellschaft. Das fanden wir sehr bemerkenswert. In der Erinnerung spielte dieser Aspekt nämlich für meine Generation, die den Text ja in den 1990er Jahre in der Schule gelesen hat, überhaupt keine Rolle. Da ging es um Medien, um das Klima des Terrorismus in der BRD vielleicht noch. Aus heutiger Sicht müssen wir leider feststellen, dass wir damals völlig übersehen haben, wie präzise und genau Böll den Sexismus der damaligen gesellschaftlichen Realität beschreibt. Da ist das Thema Frau und Waffe, aber auch die Frau, die es wagt, alleine zu leben, die kein Kind hat, die ihre Eigenständigkeit behauptet – und die damit eine Provokation der Gesellschaft darstellt. Und die vielleicht deshalb so ein dankbares Ziel abgibt.
Heute ist die mediale Landschaft kaum noch zu überblicken. Zu Bölls Zeiten war das anders. Lässt sich „Katharina Blum“ aus heutiger Sicht auch als Wunschtraum verstehen, ein Medium oder einen Schuldigen zu benennen, den man haftbar machen kann?
Aber das ist schon in Bölls Roman eine durchschaubare Illusion. Katharina Blum erschießt zwar diesen Autor, aber das trifft das System nicht im Geringsten. Bei Böll wird der Journalist Tötges nach dem Mord sofort ersetzt durch den nächsten Schreiberling, der die Story fortsetzt. Und das ist heute nicht anders. Wenn Renate Künast gegen Schreiber von Hasskommentaren vorgeht und Prozesse gewinnt, dann ist das zu unterstützen, aber es bleibt ein Kampf gegen Windmühlen. Auch die Social Media Beauftragten in den Theatern haben teilweise schlaflose Nächte angesichts der Kommentare. Die mediale Gegenwart ist sicherlich komplexer als zu Bölls Zeiten, aber der Roman erliegt nirgendwo der Illusion, dass es möglich sei, gegen das System anzukommen.
Die verlorene Ehre der Katharina Blum | R: Bastian Kraft | 26.(P), 31.1. | Schauspiel Köln | 0228 22 12 84 00
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