Die Forschungsstandorte Harvard und Yale, Oxford und Cambridge, auch Göttingen, Heidelberg und Freiburg sind bekannt. Aber Wuppertal? Ist hier mehr erfunden worden als ein lackierter Pinguin? Der erste Eindruck täuscht. Die Bergische Universität beschäftigt knapp 300 Professoren. Und die Forschung dort ist breit aufgestellt. Schon bei den Naturwissenschaftlern beeindrucken die Dimensionen. Am Nordpol suchen bergische Chemiker im Eis salpetrige Säuren, um zu verstehen, wie sich unsere Atmosphäre reinigt. Am Südpol hingegen begeben sich bergische Physiker auf Neutrinojagd. Wer bei diesen Teilchen an einen Comichelden für Kinder denkt, liegt falsch. Winzige, fast masselose, ungeladene und somit kaum sichtbare Teilchen werden mit Hilfe eines einen Kubikkilometer großen Eiswürfels in der Antarktis nachgewiesen. Wozu? Ist doch irgendwie interessant zu erfahren, woher wir alle kommen. Die klitzekleinen Neutrinos könnten, salopp formuliert, bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Vielleicht sind sie von irgendeinem etwas weiter entfernten Urknall zu uns geflogen gekommen. Viel größer dimensioniert als die Neutrinos sind die Atomteile, die im Teilchenbeschleuniger CERN in Genf in eine Kreisbahn geschickt wurden. Im Oktober vergangenen Jahres sollten zwei Protonen aufeinander geschossen werden. Einige Skeptiker prophezeiten den Weltuntergang. Manche Enthusiasten hofften, eine unendliche Energiequelle entwickeln zu können. Beide Szenarien sind bislang nicht eingetreten, obwohl Wuppertaler Wissenschaftler an dem Experiment beteiligt sind.
Aber auch in anderen Wissenschaftszweigen wird an der Bergischen Universität geforscht. Manche Projekte erscheinen dabei weniger spektakulär, aber zumindest in den Ergebnissen leichter zu verstehen. Natürlich verbessert sich die schulische Leistung von Migrantenkindern, wenn sie Förderunterricht erhalten. Wenn sie diesen von Lehrern erhalten, die aus dem gleichen Land stammen, verstehen sie noch mehr. Dieser Zusammenhang scheint eine Binsenweisheit zu sein. Wissenschaftlich bewiesen hilft sie, in der Fachdiskussion mit Politikern neue schulische Konzepte zu erstellen. Wuppertal als großer Standort der Lehrerausbildung betreibt hier Grundlagenforschung. Obwohl keine Universitätsklinik vorhanden werden auch medizinische Fragen beantwortet. „Neuronales Aktivierungsmuster bei Symptomprovokation während der Entwicklung der posttraumatischen Belastungsstörung“ heißt der sperrige Titel eines Forschungsvorhabens. Anders formuliert: Was geschieht im Gehirn eines Soldaten, der in Afghanistan einen Bombenanschlag überlebt? In Jordanien wiederum gräbt der „Indiana Jones der Theologie“ Dieter Vieweger gleich mehrere antike Städte aus. Der Clou: Die etwa 20 Städte befinden sich übereinander. Vielleicht kann uns der Ehrendoktor der Wuppertaler Uni bald erklären, ob die Menschen im Nahen Osten friedlicher miteinander auskamen, bevor es Islam und Christentum gab. Etwa 100 Jahre wird es dauern, den Schutthügel an der Grenze zu Israel und Syrien zu durchsuchen.
Das Wuppertal Institut mahnt seit knapp 20 Jahren einen ressourcensparenden Umgang mit unserem Planeten an
Internationales Renommee besitzt das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Mit ihm arbeitet die Bergische Universität zusammen. Stolz lächeln auf einem Pressefoto Unirektor Lambert T. Koch, Professor Manfred Fischedick und NRW-Wirtschaftsministerin Christa Thoben in die Kamera. Ob die gezeigte Harmonie zwischen der Ministerin und dem Institutsleiter durch dissonante Töne gestört wird, ist nicht zu erkennen. Das Wuppertal-Institut mahnt seit knapp 20 Jahren einen ressourcensparenden Umgang mit unserem Planeten an. Ob die Forderung nach einem schnellen Ausstieg sowohl aus der Atom-wie aus der fossilen Energie mit den Plänen der schwarz-gelben Landes- und Bundesregierung zu vereinbaren ist? Christa Thoben ist glühende Befürworterin der Uran- und der Kohleverstromung. Der Leiter des Berliner Büros des Wuppertal Instituts Hermann E. Ott wechselte im September schnell in den Reichstag. Er wolle, so sagte er seinen grünen Wählern, mehr an den Entscheidungsprozessen beteiligt sein. Der Umkehrschluss bedeutet: Auf die Forschungsergebnisse des Instituts für Klima, Umwelt, Energie hört sowieso niemand. Die wichtigen Wälzer aus dem Haus am Döppersberg füllen vielleicht schon die Altpapiercontainer der Büros der Bundestagsabgeordneten und Ministerien. Tatsächlich stellt sich in der zukünftigen Förderungspolitik von Bund und Land die Frage nach der Akzentverschiebung. Wird demnächst mehr Biotechnik statt Ökotechnik gefördert? Werden die Möglichkeiten neuer Atommeiler in Deutschland erforscht oder die effizientere Nutzung von Energie? Zu befürchten ist, dass die neue Bundesregierung und die alte Landesregierung die Dinosaurier füttern werden. Aber ein Argument spricht wiederum gegen diese Schreckensvision. Mit menschenfreundlicher Technik lässt sich inzwischen mehr Geld verdienen als mit großen Kraftwerken. Bundesweit bestimmen abgeschaltete Atomkraftwerke und rechtlich und finanziell nicht mehr durchsetzbare Kohlekraftwerke die Schlagzeilen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Kampf um Kalorien
Intro – Den Bach runter
Nach dem Beton
Teil 1: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 1: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
Für eine gerechte Energiewende
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
Keine Frage der Technik
Teil 2: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
„Klimakrisen sind nicht wegzureden“
Teil 2: Interview – Der Ökonom Patrick Velte über die Rückabwicklung von Nachhaltigkeitsregulierungen
Von Autos befreit
Teil 2: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Der Ast, auf dem wir sitzen
Teil 3: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 3: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
Unter Fledermäusen
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Vielfalt in den Feldern
Belohnungen für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft – Europa-Vorbild: Österreich
Was bleibt
Die Natur und wir – Glosse
Hört das Signal
Intro – Gesund und munter
Privatvergnügen
Teil 1: Leitartikel – Die Zweiklassenmedizin diskriminiert die Mehrheit der Gesellschaft
„Das Gesundheitssystem wird unter Druck geraten“
Teil 1: Interview – Arzt Bernhard Winter über den Vorwurf einer Zweiklassenmedizin
Verbunden für die Gesundheit
Teil 1: Lokale Initiativen – Wuppertals Selbsthilfe-Kontaktstelle unterstützt Bürgerengagement
So ein Pech
Teil 2: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 2: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
Gesundheit ist Patientensache
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Heimat statt Pflegeheim
Teil 3: Leitartikel – Seniorengerechtes Bauen und Wohnen bleibt ein Problem
„Wo Regelmäßigkeit anfängt, sollte Nachbarschaftshilfe aufhören“
Teil 3: Interview – Architektin Ulrike Scherzer über Wohnen im Alter
Gemeinsam statt einsam
Teil 3: Lokale Initiativen – Wohnen für Senior:innen bei der Baugenossenschaft Bochum
Senioren und Studenten müssen warten
Das Wohnprojekt Humanitas Deventer verbindet Generationen – Europa-Vorbild: Niederlande
Wenn der Shareholder das Skalpell schwingt
… und der Patient zur Cashcow wird – Glosse
Einig im Treten
Intro – Arbeitskämpfe