„Atomkraft? Mir doch egal!“ So könnte der gemeine Wuppertaler angesichts der Diskussion über Laufzeitverlängerungen der bestehenden Meiler im fernen Berlin denken. Im Bergischen Land gibt es bekanntlich keine einzige dieser Anlagen. Allein schon die gedrängte Topografie macht es schwer, sich ein Kernkraftwerk hier vorzustellen. Eine riesige Halbkugel aus Stahlbeton würde sich weder am Ufer des Beyenburger Stausees noch im Neandertal harmonisch in die Umgebung einpassen. Ein 1.300 Megawatt-Block hätte einen Kühlwasserbedarf, den die Wupper kaum decken könnte. Die Stadt müsste sich einen neuen Namen suchen. Aber neue Meiler sind sowieso nicht geplant, und auch funktionsfähige Altanlagen sind im näheren Umfeld nicht zu finden. Das traditionelle Stein- und Braunkohleland NRW hatte kein großes Interesse, eine Konkurrenz zu den heimischen Energieträgern aufzubauen. Das nächstgelegene laufende Kernkraftwerk Tihange befindet sich im 200 km entfernten Lüttich in Belgien. Betrifft der Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kernkraft also überhaupt das Bergische Land?
SEIT 2004 VERDOPPELTE SICH DIE ZAHL DER IM BEREICH DER REGENERATIVEN ENERGIEGEWINNUNG ARBEITENDEN MENSCHEN AUF ÜBER 340.000 MENSCHEN
Nach dem von der damaligen rot-grünen Bundesregierung mit den Energiekonzernen ausgehandelten Atomkompromiss im Jahr 2004 schien der Streit zwischen Kernenergiebefürwortern und -gegnern entschärft. Üppige Restlaufzeiten ließen den Stromversorgern genügend Zeit, andere, möglichst umweltschonende Kraftwerke zu projektieren. Tatsächlich erlebte die Republik einen regelrechten Wirtschaftsboom in dieser Branche. Seit 2004 verdoppelte sich die Zahl der im Bereich der regenerativen Energiegewinnung arbeitenden Menschen auf über 340.000 Menschen. Während die großen Konzerne ihren Kraftwerkspark vor allem durch weitere große Kohlekraftwerke komplettieren wollten, investierten die kleinen lokalen Versorger viel Geld in die Gewinnung regenerativer Energien, in Kraft-Wärme-Kopplung und in Energiesparmaßnahmen. Mit ihren dezentralen Strukturen waren sie in diesem Bereich den Riesen überlegen. Viele Stadtwerke sind zudem nicht so sehr interessiert an saftigen Renditen wie DAX-notierte Aktiengesellschaften. Sie sind eher dem Gemeinwesen verpflichtet.
So investierten die Wuppertaler Stadtwerke nach Inkrafttreten des Atomkonsenses massiv in umweltfreundliche Kraftwerkstechnik. Das Heizkraftwerk Barmen wurde für etwa 50 Millionen Euro im Jahr 2005 modernisiert. Nun ist es ein Gas-und-Dampf-Kombikraftwerk, das als Stromerzeuger bereits einen sensationellen Wirkungsgrad von annähernd 60 Prozent erreicht. Die verbleibende Energie wird in das bestehende Fernwärmenetz eingespeist. Ob eine die Umwelt ebenfalls entlastende Modernisierung des mit Steinkohle betriebenen Heizkraftwerks Elberfeld in Folge der aktuellen Entwicklung rentabel erscheint, wird gerade geprüft. Denn nach der nun von der schwarz-gelben Bundesregierung verkündeten Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke erwartet man in der Zentrale der Wuppertaler Stadtwerke turbulente Zeiten auf dem Strommarkt. Während die großen vier Unternehmen E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW etwa die Hälfte der Gewinne der Laufzeitverlängerung ihrer Kernkraftwerke behalten dürfen, müssen Stromanbieter, die in Photovoltaik investiert haben, mit der Beschränkung von Zuschüssen nach der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes rechnen. Die Kraft-Wärme-Kopplung, die nicht die Fördergelder von Solar-, Wasser- und Windkraft erhält, wird besonders unter der Konkurrenz der nun unerwartet sehr viel länger laufenden Kernkraftwerke leiden. Dabei passen jene schnell ein- und ausschaltbaren kleinen Kraftwerke viel besser zu den regenerativen Energien. Sie können kurzfristig einspringen, wenn gerade kein Wind weht und keine Sonne scheint. Große Kohle- und Kernkraftwerke sind als Grundlastversorger diesbezüglich nicht steuerbar. Insofern widerspricht die Laufzeitverlängerung den hehren Zielen der Bundesregierung, in 40 Jahren 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Auf die Betreiber von Gaskraftwerken mit Kraft-Wärme-Kopplung wie die Wuppertaler Stadtwerke kommen schwere Zeiten zu. Bereits einkalkulierte Gewinne werden in den nächsten Jahrzehnten ausbleiben. So steht zu befürchten, dass die Bundespolitik erneut den arg gebeutelten Städten und Gemeinden finanzielle Belastungen aufbürdet. Etliche Entscheidungen in Berlin haben die Kommunen in den letzten Jahren bereits viel Geld gekostet. Wenn nun die Wuppertaler Stadtwerke durch die Energiepolitik der Bundesregierung keine schwarzen Zahlen mehr schreiben, geht dies zu Lasten der Bürger hier. Das großzügige Geschenk der Laufzeitverlängerung hingegen erhalten die großen Energiekonzerne.
Natürlich sind längere Laufzeiten für Kernkraftwerke noch zu verhindern. Wenn Konsumenten massenweise ihren Strom nur noch aus regenerativen Quellen beziehen, sehen die Bilanzen für die Kraftwerksbetreiber auf einmal völlig anders aus. Und auch politisch ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Spätestens im Oktober 2013 ist wieder Bundestagswahl.
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