engels: Die Pandemie ist noch da – und nach zwei überwiegend digitalen Ausgaben kehren die Impulse jetzt live zurück. Wie gut geht es der Freien Szene inzwischen wieder?
Haiko Pfost: Ich bin zwar kein Arzt, aber klar ist: Wir haben zwei harte Jahre hinter uns und freuen uns, dass es dieses Jahr ein physisches Festival geben wird und dass wir Publikum, Künstler:innen – überhaupt Menschen – zusammenbringen können. Wir haben viel ausprobiert in diesen zwei Jahren, haben gezwungenermaßen viele digitale Formate entwickelt und Erfahrungen gesammelt, die wir sonst nicht gesammelt hätten. Jetzt in Präsenz zurückzukehren ist extrem wichtig für unsere Kunstform. In der Freien Darstellenden Kunst geht es eben sehr stark um Versammlung und zwar live – und diese Versammlung muss endlich mal wieder stattfinden.
Kommen wir zunächst zur Akademie. Am ersten Festivalwochenende geht es im Konferenzprogramm zu Un/Save Spaces um Sicherheit und Konfrontation in Theaterräumen. Eine Woche später erkundet Ar/ctivism, welche Formen die Kollaboration von Kunst und Aktivismus in den Freien Darstellenden Künsten annehmen kann. Sind da Fridays for future oder die Montagsdemos gemeint?
Weder noch. Bei Ar/ctivism geht es um die Frage, wessen originäre Aufgabe es ist, aktivistisch tätig zu sein. Einen politischen Anspruch gibt es in der Freien Szene definitiv und den wollen wir auch kritisch reflektieren. Wir fragen uns zum Beispiel auch, inwiefern Kunst im Aktivismus Platz hat – und umgekehrt. Bei der Akademie zu Un/Save Spaces setzen wir uns damit auseinander, für wen welche Theaterräume sicher sind. Wir beleuchten das Modell der Safe Spaces, bei dem versucht wird, eine möglichst sichere Umgebung für möglichst viele Menschen zu schaffen. Das bedeutet zum Beispiel, dass Verunsicherungen oder Bedrohungen im Vorhinein kenntlich gemacht werden, oder dass keine abwertende und ausgrenzende Sprache verwendet wird. Wir fragen uns, inwieweit das im Theater machbar ist und welches Spannungsverhältnis sich daraus zur künstlerischen Freiheit ergibt. Wie sicher kann und muss ein Theaterraum sein?
Kommen wir zum Showcase: Warum sollte ich mir ausgerechnet dieses Jahr die deutsche Nationalhymne anhören und mir wehende Deutschlandfahnen ansehen?
Weil sowohl die Hymne als auch die Fahne Realität sind und weil es genau darum geht: Was lösen diese Zeichen in uns aus? Unsere Showcase-Auswahl hat stattgefunden, bevor der Krieg in der Ukraine begonnen hat. „Lovesong“, die Arbeit, auf die Sie anspielen, ist von Daniel Dominguez Teruel, der selbst aus einer Familie mit Migrationsgeschichte stammt und der sich fragt, wie er mit dem Unbehagen umgehen kann, das diese nationalen Symbole auslösen. Es geht um Aneignung und Transformation von etwas, das wir schon unser ganzes Leben lang kennen. Warum Sie sich das ansehen sollten? Weil der Künstler eine eigene Lesart für diese Zeichen findet – und weil jede:r mal die deutsche Nationalhymne als arabisch anmutenden Song gehört haben sollte.
Die anderen ausgewählten Arbeiten handeln von Sex, Artensterben, Wohnungsnot, das Verschwinden an sich und auch noch Madama Butterfly. Ist durch die lange Pause so eine Bandbreite nötig geworden?
Es ist gar nicht breiter als sonst. Die Freie Szene war immer sehr vielfältig. Immerhin sehen wir uns über 300 Produktionen im Jahr an. Bei der Menge kommen automatisch viele Themen zusammen. Hinzu kommt, dass wir viele Ästhetiken und Formate präsentieren wollen, um der Gesamtheit der Freien Szene gerecht zu werden. Die Arbeiten im diesjährigen Showcase sind hauptsächlich in 2021 entstanden.
Ist die ausgefallenste Arbeit der Flugzeuglärm über Beirut?
Dieses Jahr fällt keine Arbeit aus. Zumindest hoffe ich das! Nein, im Ernst: Das entscheidet wie immer der Zuschauer oder die Zuschauerin. Klar ist, dass „Air Pressure: A Diary of the Sky“ von Lawrence Abu Hamdan ästhetisch anders aufgestellt ist als vieles, was wir sonst so zeigen. Es ist eine Lecture Performance eines bildenden Künstlers, der dokumentarisch arbeitet und sich mit der akustischen Bedrohung über dem Libanon beschäftigt. Je nachdem, welche Erfahrung man sucht, wird man andere Arbeiten ausgefallen finden. Was Sibylle Peters mit ihrem Hetera Club zeigt, ist auch eine ganz besondere Erfahrung, die ich als Mann aber leider nicht machen kann.
Die Rückkehr des Memento mori im Osten Europas spielte keine Rolle bei der Auswahl – kann das jetzt ins Stadtprojekt integriert werden?
Das Interessante ist, dass Künstler:innen lange an Themen und Produktionen arbeiteten, die nun anders gelesen werden. Eine künstlerische Arbeit verändert sich mit den Bedingungen, in denen wir leben. Was die Themenauswahl angeht, sind wir gerade trotzdem erschreckend aktuell. Die Arbeit von Rimini Protokoll über das Verschwinden eines Passagierflugzeugs ist so ein Beispiel, das man jetzt vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs nochmal ganz anders liest.
Also kein Krieg bei der Guggenheim-Geschichte in Düsseldorf, vielleicht anstatt der Immobilien-Spekulation die Spekulation der Waffenhändler in Düsseldorf?
Die Künstlergruppe God‘s Entertainment, die das diesjährige Stadtprojekt entwickelt, ist gerade hier vor Ort und wir haben genau darüber gesprochen. Die Frage ist, für wen macht man so ein Stadtprojekt. Uns geht es darum, herauszufinden, welche Themen den Menschen in Oberbilk wichtig sind und was sie in diesem Fall in ein Museum stellen wollen, wenn Sie die Chance dazu haben. Wenn das dann doch etwas anderes ist, als wir vielleicht dachten, umso besser. Nur so entsteht spannende Kunst.
Impulse Theater Festival | 9.-19.6. | div. Orte an Rhein und Ruhr | 0202 69 82 72 06
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