Der Regierende Bürgermeister von Berlin tut es, der von Hamburg wohl auch, Vizekanzler und Außenminister tun es wohl auch. Dirk Bach, Alfred Biolek, Hape Kerkeling, die Liste wird lang. Immer mehr Männer lieben Männer. Oder zumindest wird immer mehr bekannt, dass Männer Männer lieben. Und auch Frauen, so wird dem schon nicht mehr ganz staunenden Publikum berichtet, lieben mitunter Frauen. Zur Normalität in diesem Land gehört mittlerweile neben Parteivorsitzenden mit Migrationshintergrund und Präsidentengattinen mit Tätowierung auch Homosexualität. Dies erscheint zumindest immer mehr als Common Sense. Nur ein kleines unbeugsames Dorf mit seinen weltweit verstreuten Zweigstellen und Niederlassungen beugt sich nicht dieser Erkenntnis. Das Dorf liegt weit weg von Wuppertal in Mittelitalien und heißt – Vatikanstadt. Der Homosexuelle, so die offizielle Lesart dort, nachzuschauen im vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger verfassten neuen Weltkatechismus von 1992, solle von der Katholischen Kirche geachtet werden. Dass er existiere, sei für ihn allein noch keine Sünde, solange er seine Sexualität nicht praktiziere. Mit diesem Bekenntnis scheint sich der Klerus von seiner jahrtausendealten Tradition allmählich zu verabschieden, Homosexuelle dem Scheiterhaufen zu überantworten. Natürlich können angestellte Schwule, sobald sie sich selbst geoutet haben, nicht mehr bei katholischen Trägern arbeiten. Auch vergeht kaum eine Woche, in der hohe Würdenträger in Talkshows oder per Interview über Sexualmoral sprechen. „Homosexualität ist Sünde!“, teilte der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck mit. Seit seinem Auftritt bei der ARD-Talkshow von Anne Will im April dieses Jahres ist Overbeck zum Bad Guy der schwul-lesbischen Szene des Ruhrgebiets avanciert.
Wie aber ist die Situation in Wuppertal? Der für die Stadt zuständige Dom in Köln erscheint weit. Zwar ist dort ein gewisser Erzbischof Joachim Meisner tätig. Doch stehen seine schwulenfeindlichen Statements oft im Schatten seiner anderen verbalen Entgleisungen. Bunte Kirchenfenster sind seiner Meinung nach entartete Kunst, Schwangerschaftsabbruch ist Völkermord. Da erscheint es fast schon gnädig, wenn er gegen eingetragene gleichgeschlechtliche Partnerschaften und ein Adoptionsrecht für Homosexuelle poltert, ohne gleich Nazi-Vokabular zu benutzen oder Nazi-Vergleiche zu ziehen. Und da Wuppertal eben nicht streng katholisch ist, sondern mit seinen vielen verschiedenen Glaubensgemeinschaften eher wie ein modernes Jerusalem daherkommt, hat sich die schwul-lesbische Szene im Tal nicht sonderlich auf den Klerus eingeschossen. Zwar, so sagen die Organisatoren von Wupperpride, dem Wuppertaler Christopher- Street-Day, strahlen diskriminierende Äußerungen eines Erzbischofs über den katholischen Bereich hinaus und wollen das auch. Aber letztlich lässt die Szene den lieben Gott und auch den Papst und seine Leute einen guten Mann sein.
Bis März gab es durchschnittlich 30 Kirchenaustritte im Monat. Seit März hat sich die Zahl verdreifacht
Ein Grund dafür mag sein, dass die Katholiken in der Wuppertaler Diaspora sehr moderat daherkommen. Im Gegensatz zu manchen pietistischen Vereinigungen und Sekten erscheinen die Katholiken als Hort bürgerlichen Liberalismus‘. Pastoralreferent Werner Kleine, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des Stadtdekanats Wuppertal, reibt sich an Zölibat, Leibfeindlichkeit und rigider Moral seines Arbeitgebers. Wenn sich die Kirche nicht ändert, wird sie bald leer sein, so seine Prophezeiung. Und sie leert sich jetzt schon. Bis März dieses Jahres verlief die Mitgliederentwicklung der Katholischen Kirche in Wuppertal ähnlich sinkend wie die allgemeine Bevölkerungsentwicklung in der Stadt. Seit Jahrzehnten gibt es etwa 24 Prozent Katholiken in Wuppertal. Bis März gab es durchschnittlich 30 Kirchenaustritte im Monat. Seit März hat sich die Zahl verdreifacht. Die Skandale um Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen treibt, so die Einschätzung von Kleine, nicht nur Menschen aus der Kirche, die sowieso mit dem Austritt haderten, sondern aktive Gemeindemitglieder. Der Aderlass sei nur mit einer Öffnung der Kirche zu stoppen. Dass gerade die restriktive Sexualmoral innerhalb der Katholischen Kirche zu den Missbrauchsfällen führte, erscheint fast nur noch als pikante Fußnote. Dort, wo Sexualität und Homosexualität nicht stattfinden dürfen, finden sie im Beichtstuhl statt, so ein junger Mann, der in Wuppertal einmal Messdiener war.
Vielleicht sollte sich die Katholische Kirche aktiv im nun stattfindenden Christopher-Street-Day einbringen. Und mit ihr sind bestimmt auch die anderen religiösen Gemeinschaften im Tal willkommen, sich am 14. August vor dem Cinemaxx einzufinden. Die evangelische Kirchengemeinde Uellendahl-Ostersbaum feierte bereits an Heilabend einen besonderen Gottesdienst in der Thomaskirche. 200 Heteros und Homosexuelle sangen gemeinsam „Stille Nacht“. Die Pfarrerin, die diese seltene Veranstaltung ermöglichte, war begeistert. „Nachher sah ich manchen Kirchenbesucher mit Tränen in den Augen, weil er Weihnachten mit seiner Familie sonst immer ganz anders erfahren musste.“
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