
engels: Herr Busch, stimmt der Eindruck, dass es heute schwieriger ist, Entscheidungen zu treffen als vor einigen Jahrzehnten, weil wir Zugriff auf viel mehr Informationen haben?
Volker Busch: Diese Wahrnehmung ist richtig. Als Grund dafür vermuten Soziologen unseren Hang zum Perfektionismus, der sicherlich in den letzten Jahren zugenommen hat. Dahinter steckt der Wunsch, in allem, was wir tun, möglichst optimal zu sein, effizient und über jeden Zweifel und jeden Fehler erhaben. In diesem Wunsch, allen Argumenten gerecht zu werden, keine Fehler machen zu wollen und eine perfekte, tragfähige Entscheidung zu treffen, die sich auch Jahre später noch als richtig erweist, entsteht natürlich sehr viel Stress. Denn gleichzeitig erleben wir – trotz des zunehmenden Perfektionismus in unserer Gesellschaft – auf der anderen Seite eine zunehmende Ungewissheit in der Welt. Richtig und falsch kann sich schon mehrere Wochen später als genau andersherum erweisen. Was früher noch gefühlt zumindest relativ einfach zu beurteilen war, ist in einer so schnelllebigen Welt wie der heutigen viel schwieriger zu beurteilen. Und man muss sich viel häufiger und schneller flexibel auf neue Bedingungen anpassen. Das Spannungsfeld zwischen Perfektionismus auf der einen und der zunehmenden Ungewissheit der Welt macht die Entscheidungsfindung in vielen Alltagssituationen schwer.
„Eine Nacht drüber schlafen“
Stress entsteht auch, wenn im Gehirn sozusagen Kopf und Bauch miteinander streiten. Hängt es von der Tagesform ab, welche Seite gewinnt?
Wenn wir besonders gut gelaunt sind, treffen wir die riskanteren Entscheidungen. Wir sind weniger vorsichtig, weil wir in dem allgemeinen Gefühl von Optimismus bestimmte Gefahren nicht sehen möchten und dann schnell mal übersehen. Insofern ist es richtig, dass viele Entscheidungen von unserer Stimmung oder unseren aktuellen Gefühlen abhängig sind und das nicht zu einem geringen Ausmaß. Genau deswegen sagt man ja auch, dass man vor Entscheidungen, die eine gewisse Tragweite haben, erstmal eine Nacht drüber schlafen soll. Damit lässt sich dieser Effekt der Stimmung etwas minimieren.
„Der Mensch ist eben kein Computer“
Haben sie weitere Tipps für bessere Entscheidungen?
Es gibt ganz viele Wege. Das wichtigste ist Kopf oder Bauch in einen Dialog zu bringen: Was fühle ich? Wonach ist mir der Sinn? Was sind meine Erfahrungen? Aber was sagen die Fakten? Die Mitsprache der Gefühle ist dabei unverzichtbar. Informatiker oder Computerspezialisten, die sich an das Feld der Entscheidungsfindung heranwagen, vergleichen den Menschen mit einem Computer, der sehr genau berechnen kann, was „richtig“ ist. Aber der Mensch ist eben kein Computer. Für uns ist im Leben entscheidender, dass sich etwas gut anfühlt, und dass es stimmig ist. Auch wenn ein Restrisiko bleibt und die Entscheidung nach hinten losgehen kann. Wenn man sich dennoch schwer tut, kann man auch die Gruppe fragen. Deren Entscheidungen sind nämlich im Mittelwert oft treffsicher. Bei der Sendung „Wer wird Millionär“ führt der Publikumsjoker oft dazu, dass die Entscheidung richtig wird, weil in der Menge an Meinungen im Mittel ein hohes Maß an Intelligenz liegt. Die Gesamtheit der befragten Stimmen liegt oft nah an der Wahrheit. Nicht immer, aber sehr häufig. Diesen Umstand kennt man in der Entscheidungspsychologie schon sehr lange. Wer sich nicht sicher ist, sollte also ruhig eine Gruppe um Rat fragen. Bei Entscheidungen im Business kann man als Führungskraft ebenfalls die Last der Entscheidung auf die Schultern mehrerer verteilen. Die Verantwortung mag man schlussendlich dann trotzdem übernehmen müssen, aber beim Treffen der Entscheidung selbst tut man sich so vielfach leichter, denn der Mittelwert der Gruppe liegt oft nahe an der Wahrheit und gleicht Irrwege einzelner aus.
„Entscheidungen überhaupt treffen ist wichtiger als richtig oder falsch zu liegen“
Manchmal schieben Menschen Entscheidungen zu lange vor sich her, dann werden sie ihnen abgenommen. Ist das eine Lösung?
Wir wissen aus der Wissenschaft, und gleichzeitig ist es auch Therapieerfahrung, dass die unglücklichsten Situationen tatsächlich die sind, in denen man keine Entscheidung trifft. Untersuchungen belegen, dass es Menschen, unterm Strich lieber ist, zwar vielleicht die falsche Entscheidung zu treffen, aber diese dafür nicht aus Angst jahrelang aufzuschieben. Andernfalls entsteht nämlich ein Gefühl von Reue, das Menschen jahrelang belasten kann. Insofern ganz klare Antwort und auch wissenschaftlich sehr eindeutig: Entscheidungen überhaupt treffen ist wichtiger als richtig oder falsch zu liegen.
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Vorwärts 2026
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Noch einmal schlafen
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