Mary Poppins und Alice im Wunderland – in diesen wunderbar abgedrehten Märchen der englischsprachigen Literatur können Teetassen und Kaninchen sprechen, die Handlung findet an der Wohnzimmerdecke statt, die wahre Liebe hingegen zwischen Schornsteinen. Wahrscheinlich stand bei diesen Werken die Stadt Wuppertal Patin. Straßenbahnen fahren hier schon seit über hundert Jahren auf dem Kopf. Und im kommenden Jahr soll es möglich sein, zu Fuß, mit Inlinern und mit dem Fahrrad über den Dächern der Bergischen Metropole zu reisen.
Seit drei Jahren plant der Wuppertalbewegung e.V. die Wiederbelebung der Nordbahntrasse als Rad- und Wanderweg. Diese stillgelegte Bahnlinie ist Teil der 1879 fertiggestellten damals so genannten „Rheinischen Strecke“ von Dortmund nach Düsseldorf. Die letzten Züge fuhren vor zehn Jahren. Seitdem rotten die imposanten Viadukte, die das Stadtbild von Wuppertal beherrschen, vor sich hin. Einige engagierte Bürger schlossen sich zu dem Verein Wuppertalbewegung zusammen, um aus der ehemaligen Bahnstrecke eine fast ebene 20 Kilometer lange Verbindung zwischen den Stadtteilen zu schaffen.
Die Vision erscheint verlockend. War bislang das Radfahren in dem deutschen San Francisco mühsam bis unmöglich, könnten bald sogar überzeugte Couchpotatoes und Kurzstreckenautofahrer Geschmack an ihrem Fahrrad finden. Der Umstand, dass die holprigen Straßen an den steilen Hängen nicht mehr mit eigener Muskelkraft bezwungen werden müssen, spricht für einen Wechsel vom Auto zum Rad. Die Streckenführung von Ost nach West garantiert die Verbindung fast aller zentralen Destinationen der Stadt. Ein „Highway to Hike“. Ohne störenden und gefährdenden Autoverkehr kann der Reisende zudem völlig neue Blickwinkel auf die Stadt genießen.
Wie ein Kampf Grün gegen Grün
Das Projekt, das mit einem achtstelligen Betrag staatlicher Förderung ausgestattet ist, wäre trotzdem ohne die privaten Unterstützer aus der Wirtschaft, dem sozialen Bereich und den Vereinen nicht möglich. So scheint der neu zu schaffende Weg zwischen den Ortsteilen nicht nur verkehrstechnisch sondern auch menschlich die Stadt zu verbinden. Kalkwerk und Behinderteneinrichtung, Staubsaugerhersteller und Werbeagentur, sie alle unterstützen den Radweg. Wären da nicht die Tunnel und deren Bewohner. Batman is back. Fünf strenggeschützte Arten von Fledermäusen hausen in den stillgelegten Röhren der Nordbahntrasse. Besonders wichtig sind den Nachtaktiven die beiden Tunnel an der Stadtgrenze. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz BUND protestierte gegen die Baupläne. Die zunächst konspirativen Treffen zwischen Tierschützern und Radwegbefürwortern brachten keine schnelle Lösung. So wurde im vergangenen Jahr der Streit zwischen Fahrrad- und Fledermausfreunden erbittert und in der Öffentlichkeit ausgetragen. Dabei erschien dem Publikum der Zwist wie ein Kampf Grün gegen Grün. Ein seltener Hamster, der vor Jahren ein nicht so seltenes rheinisches Braunkohlekraftwerk verhindern wollte, hinterließ eindeutigere Fronten.
Inzwischen haben sich die Gemüter der Kontrahenten etwas beruhigt. Wie so oft in solchen Situationen wartet man ein Gutachten ab. Der Umbau der Nordbahntrasse scheint nicht gefährdet. Einige Details sind noch zu klären. Wie werden die Tunnel ausgebaut? Werden sie im Winter während der Winterruhe der Fledermäuse geschlossen? Kann im Westen der Tunnel durch eine geänderte Trassenführung umgangen werden? Klaus Lang vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub ADFC ist sich sicher, dass der Konflikt entschärft ist und hofft auf eine einvernehmliche Lösung gerade beim östlich gelegenen Tunnel Schee. Ohne Schee gibt es keine Anbindung an die Fernradwanderwege des Ruhrgebietes. Am nordöstlichen Zipfel der Stadt existieren im Gegensatz zu den anderen Tunneln zwei Röhren durch den Berg. Vielleicht werden die Fledermäuse, deren Flügel hier bis zu 43 Zentimeter Spannweite messen, umziehen. Komplizierter ist die Situation dort aber auch, weil der Tunnel Schee den Regierungsbezirk Arnsberg auf Hagener Seite und den Regierungsbezirk Düsseldorf auf Wuppertaler Seite verbindet. Die Sauerländer, so die Einschätzung von Klaus Lang, sind bezüglich Tierschutz sensibler. Eine Föderalismuskrise ist zwar nicht zu erwarten, aber doch ein behäbiges Genehmigungsverfahren.
Die innerstädtische Trasse zumindest, so sind sich alle Beteiligten sicher, wird in einem Jahr eröffnet werden. Klaus Lang ist bereits jetzt begeistert. Bei einer Ortsbegehung des ADFC fanden sich an einem Wochenende schon mal 1.100 Neugierige ein, die zukünftige Drahteselbahn zu besichtigen. Die Vohwinkeler Marktforscherfirma Econex, so weiß Lang, hat für ein normales Pfingstwochenende 10.000 Besucher prognostiziert. Damit könnte die Nordbahntrasse anderen Flaniermeilen wie der Düsseldorfer Rheinuferpromenade Konkurrenz machen. Und: Wuppertal wird durch die Trasse fahrradfreundlicher als Münster und Holland.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Kampf um Kalorien
Intro – Den Bach runter
Nach dem Beton
Teil 1: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 1: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
Für eine gerechte Energiewende
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
Keine Frage der Technik
Teil 2: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
„Klimakrisen sind nicht wegzureden“
Teil 2: Interview – Der Ökonom Patrick Velte über die Rückabwicklung von Nachhaltigkeitsregulierungen
Von Autos befreit
Teil 2: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Der Ast, auf dem wir sitzen
Teil 3: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 3: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
Unter Fledermäusen
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Vielfalt in den Feldern
Belohnungen für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft – Europa-Vorbild: Österreich
Was bleibt
Die Natur und wir – Glosse
Hört das Signal
Intro – Gesund und munter
Privatvergnügen
Teil 1: Leitartikel – Die Zweiklassenmedizin diskriminiert die Mehrheit der Gesellschaft
„Das Gesundheitssystem wird unter Druck geraten“
Teil 1: Interview – Arzt Bernhard Winter über den Vorwurf einer Zweiklassenmedizin
Verbunden für die Gesundheit
Teil 1: Lokale Initiativen – Wuppertals Selbsthilfe-Kontaktstelle unterstützt Bürgerengagement
So ein Pech
Teil 2: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 2: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
Gesundheit ist Patientensache
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Heimat statt Pflegeheim
Teil 3: Leitartikel – Seniorengerechtes Bauen und Wohnen bleibt ein Problem
„Wo Regelmäßigkeit anfängt, sollte Nachbarschaftshilfe aufhören“
Teil 3: Interview – Architektin Ulrike Scherzer über Wohnen im Alter
Gemeinsam statt einsam
Teil 3: Lokale Initiativen – Wohnen für Senior:innen bei der Baugenossenschaft Bochum
Senioren und Studenten müssen warten
Das Wohnprojekt Humanitas Deventer verbindet Generationen – Europa-Vorbild: Niederlande
Wenn der Shareholder das Skalpell schwingt
… und der Patient zur Cashcow wird – Glosse
Einig im Treten
Intro – Arbeitskämpfe