Es führt über den Main/
eine Brücke von Stein/
Wer hinüber will gehn/
muss im Tanze sich drehn/
Falalalala falalala
In dem alten Frankfurter Volkslied ist die Brücke Verheißung und Bedrohung in einem. Der Weg über den Fluss zum anderen, unbekannten Ufer zwingt die Reisenden zur Aufgabe ihres irdischen Auftrages. Fuhrmann und Pferde, Bursche und Mädchen, alle, sogar der König, müssen tanzen. So befiehlt der Herrscher, die Brücke abzureißen. Doch das Ansinnen scheitert. Auch die, die sich mit Beilen dem Bauwerk nähern, müssen unweigerlich tanzen. Der Weg über den Main, die Wupper, den Jordan oder den Styx erscheint unausweichlich.
Seit Wochen streiten Bürger, Denkmalschützer und Stadtplaner über die Zukunft der Adlerbrücke in Barmen. Das Bauwerk aus dem Jahr 1868 soll, so der Wille der Stadt, abgerissen werden. Die Unterkonstruktion der Fahrbahn, die aus Holzbohlen besteht, ist morsch, so dass sich die Fahrbahndecke bedenklich abgesenkt hat. Im August wurde die Brücke komplett gesperrt. Inzwischen regt sich aber Widerstand. Viele Wuppertaler wollen ihre Adlerbrücke behalten. Die unverwechselbare Stahlkonstruktion gilt als identitätsstiftend. Nach einer Umfrage der Westdeutschen Zeitung halten nur 24 Prozent der Leser die Brücke für verzichtbar.
Droht also nach dem schwäbischen Fiasko von Stuttgart 21 nun auch mit dem Abbruch der Adlerbrücke ein ähnlicher Riss zwischen Bevölkerung und Behörden im Bergischen Land? Tatsächlich ist neben der schlicht materiellen Brücke über den Fluss auch der Weg zwischen Stadtbewohnern und Stadtplanern erheblich sanierungsbedürftig. Schon bei anderen Sparvorhaben der Verwaltung formierte sich prompt der Widerstand der störrischen Wuppertaler. Ob es um die Schließung von Theatern, Bädern oder Bibliotheken ging, schnell gründeten sich Initiativen, die das Bedrohte erhalten wollten. Neben dem Protest gegen die Ausdünnung kommunaler Leistungen spielte immer auch eine konservative Haltung eine Rolle. Vielen, gerade älteren Menschen, missfällt der rasante Umbau der Stadt. Sehr eindrucksvoll dokumentierte der Autor Jörg Müller bereits 1973 mit seiner Bildergeschichte „Hier fällt ein Haus, dort steht ein Kran und ewig droht der Baggerzahn“ den rabiaten Umbau des Gemeinwesens. Ein idyllisches Städtchen mit Fachwerkhäusern und reich verzierten Gebäuden aus der Gründerzeit weicht in der Bilderfolge Stück für Stück einer modernen, aber seelenlosen Metropole aus Stahl, Glas und Beton.
SOLLTE MAN AUS FRÜHEREN STÄDTEBAULICHEN SÜNDEN LERNEN?!
Dabei ist Wuppertal mitnichten ein homogener moderner Betonklotz, sondern wie viele andere deutsche Städte stilistisch Patchwork! Direkt neben der Adlerbrücke wurde 1999 der moderne Glaskasten der neuen Schwebebahnstation „Adlerbrücke“ errichtet, der die historische Station ersetzte. Gerade dieses unschöne Ensemble gilt nun als ein Argument, auch die Adlerbrücke abzureißen. Wie aber kann mit Baudenkmälern, die in die Jahre gekommen sind, umgegangen werden? Eine lückenlose Erhaltung der Stadt ist weder realistisch noch anzustreben. Wer wohnt schon gern in Rothenburg ob der Tauber? Eine Raumhöhe von 1,70 m ist wenigen modernen Menschen zuzumuten. Großstädte können nicht Disneyland spielen. Deshalb müssen wir wohl oder übel mit den stilistischen Brüchen in unserem Stadtbild leben und das Beste daraus machen. Die Gedächtniskirche in Berlin blieb als mahnende Ruine erhalten. Dem Reichstag schenkte man eine neue, transparente und schwer entflammbare Kuppel. Eine innovative Stadtentwicklung muss nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen Bewahrendem und Veränderndem austarieren, sie muss eine Synthese finden. Immer neu muss ein Bezug zur Historie hergestellt werden, und dieser Bezug wird sich wiederum ständig wandeln. Ein Wuppertal, wie es im Jahr 1868 aussah, war keinesfalls Idylle. Die Wupper, so kann man in Überlieferungen nachlesen, roch noch erheblich strenger als heutzutage. Die Arbeit in den Fabriken war sicherlich nicht angenehmer. Auch das Fehlen der vier eisernen Adler an der Adlerbrück mag man als zivilisatorischen Gewinn verbuchen. Trotzdem wäre es schade, wenn sich Wuppertal aus Kostengründen seiner verbliebenen Denkmäler berauben würde. Natürlich könnte eine Buslinie auf Dauer die reparaturanfällige Schwebebahn ersetzen. Natürlich könnte der Ölberg einer modernen Wohnanlage weichen. Natürlich könnten alle historischen Brücken durch zweckmäßige Bauwerke ersetzt werden. Aber sollte man nicht aus früheren städtebaulichen Sünden lernen?!
Hinter dem Streit zwischen Stadtplanern und Denkmalschützern, so mag man psychologisierend mutmaßen, ist eine existenzielle Angst verborgen. Wer Alterungsprozesse unsichtbar machen möchte, hat nur Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Weder die Bewahrer, die alles perfekt konservieren wollen, noch die Planierer, die immer neue, moderne Städte bauen, wollen die Brücke sehen, über die letztlich ihr Weg führen wird.
Es führt über den Main/
eine Brücke von Stein/
Wir fassen die Händ‘/
und wir tanzen ohn‘ End/
Falalalala, falalala
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Kampf um Kalorien
Intro – Den Bach runter
Nach dem Beton
Teil 1: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 1: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
Für eine gerechte Energiewende
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
Keine Frage der Technik
Teil 2: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
„Klimakrisen sind nicht wegzureden“
Teil 2: Interview – Der Ökonom Patrick Velte über die Rückabwicklung von Nachhaltigkeitsregulierungen
Von Autos befreit
Teil 2: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Der Ast, auf dem wir sitzen
Teil 3: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 3: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
Unter Fledermäusen
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Vielfalt in den Feldern
Belohnungen für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft – Europa-Vorbild: Österreich
Was bleibt
Die Natur und wir – Glosse
Hört das Signal
Intro – Gesund und munter
Privatvergnügen
Teil 1: Leitartikel – Die Zweiklassenmedizin diskriminiert die Mehrheit der Gesellschaft
„Das Gesundheitssystem wird unter Druck geraten“
Teil 1: Interview – Arzt Bernhard Winter über den Vorwurf einer Zweiklassenmedizin
Verbunden für die Gesundheit
Teil 1: Lokale Initiativen – Wuppertals Selbsthilfe-Kontaktstelle unterstützt Bürgerengagement
So ein Pech
Teil 2: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 2: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
Gesundheit ist Patientensache
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Heimat statt Pflegeheim
Teil 3: Leitartikel – Seniorengerechtes Bauen und Wohnen bleibt ein Problem
„Wo Regelmäßigkeit anfängt, sollte Nachbarschaftshilfe aufhören“
Teil 3: Interview – Architektin Ulrike Scherzer über Wohnen im Alter
Gemeinsam statt einsam
Teil 3: Lokale Initiativen – Wohnen für Senior:innen bei der Baugenossenschaft Bochum
Senioren und Studenten müssen warten
Das Wohnprojekt Humanitas Deventer verbindet Generationen – Europa-Vorbild: Niederlande
Wenn der Shareholder das Skalpell schwingt
… und der Patient zur Cashcow wird – Glosse
Einig im Treten
Intro – Arbeitskämpfe