Es gibt so viele Kreuzchen zu machen in diesen Monaten. Im Mai war es zunächst ein Kreuz für die Europawahl. Es folgten im August die Kommunalwahlen. Nun, Ende des Monats, erwartet uns die Königin aller Wahlen, die Bundestagswahl. Aber welche Wahl haben hier die Wählerinnen und Wähler? Angesichts der neuen Unübersichtlichkeit des Sechs-Parteien-Systems werden, vorausgesetzt, CDU/CSU und FDP erhalten zusammen nicht die absolute Mehrheit, die Weichen erst Wochen später gestellt. Koalitionsverhandlungen werden dramatischer sein als Tanzstundenbälle. Die CDU möchte nicht gern mit der SPD, auch nicht so gern, aber doch lieber mit den Grünen. Die FDP möchte an die Regierung. Mit wem, sagt sie nicht. Die Parteigeschichte lässt vermuten, dass sie notfalls eine Koalition mit Teufels Großmutter eingehen würde, bevor sie weitere vier Jahre auf den harten Oppositionsbänken Platz nehmen müsste. Aber vielleicht bleibt sie ja weiter parlamentarisches Mauerblümchen. Wie soll die Partei, die sich immer als Förderer der Wirtschaft versteht, mit den Grünen harmonieren, die einige sogenannte Zukunftstechnologien wie Gentechnik und Atomkraft vehement ablehnen? Eine Ampel hätte es schwer. Mit wem könnte also die SPD gehen? Blieben noch die Linken. Aber nur manch versprengter Grüne und manch SPD-Landespolitiker aus Neufünfland kann sich mit den Schmuddelkindern des demokratischen Systems eine Zusammenarbeit vorstellen. Der Geist der enthaupteten Andrea Ypsilanti spukt im mittlerweile fast verlassenen und stark sanierungsbedürftigen Haus der deutschen Sozialdemokratie. Kein Sozi traut sich mehr mit roten Socken auf die Straße. Da der Deutsche Michel in Krisenzeiten sowieso lieber auf Nummer Sicher geht, keine Experimente wagt, könnte es tatsächlich zu einer CDU-FDP-Koaltion reichen. Rote Socken machen im Westen noch immer Angst.
Peter Hintze, der Erfinder der roten Socke
Der Erfinder der „Rote-Socken-Kampagne“ ist übrigens Peter Hintze. Der beurlaubte Pfarrer aus Königswinter kandidiert in Wuppertal. Als CDU-Generalsekretär ließ er sich bereits vor 15 Jahren an einer Wäscheleine mit der entsprechenden Fußbekleidung in der Hand fotografieren. Seine Position als General machte es nötig, den Wadenbeißer zu mimen. Inzwischen ist der Staatssekretär beim Wirtschaftsministerium gesetzter geworden. Lieber klopft er anerkennend deutschen Astronauten auf die Schulter, als dass er den ideologischen Einpeitscher gibt. Gern hätten wir ihn gefragt, wie er als Wuppertaler Abgeordneter die Zukunftsperspektive der Kinder und Jugendlichen in der Region verbessern möchte. Leider hatte Hintze nach intensivem, wahrscheinlich stundenlangem Studium der letzten beiden engels-Ausgaben dann doch zu wenig Zeit für ein zehnminütiges Interview. „Habe Ihre Leseproben mit Freude durchgelesen. Bin leider so im Programm, dass ich Ihnen keine Zusage geben kann“, antwortete er freundlich.
So bleiben unsere Fragen offen. Wird der Riss durch die Gesellschaft weiter und tiefer, wenn CDU und FDP regieren? Bleibt es beim dreigliedrigen Schulsystem, das vornehmlich männliche Migrantenkinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten ausgrenzt? Werden die Studiengebühren erhöht? Bleiben die Hartz IV-Sätze auf dem jetzigen Stand, damit Kinder weiter ohne adäquate Lehrmittel und mit knurrenden Mägen zur Schule gehen müssen? Wird es noch weniger Ausbildungsplätze geben? Wird der Niedriglohnsektor wachsen und in Folge dessen viele arbeitende Menschen auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sein? Werden Banken und Großkonzerne weiter großzügig in den Genuss staatlicher Hilfen kommen? Werden Steuern weiter gesenkt, damit die Staatsverschuldung zunimmt? Wird es mit der FDP als Regierungspartei zu einer effektiven Bankenaufsicht kommen?
Vielleicht hätte Peter Hintze ganz unerwartet geantwortet. Natürlich möchten wir eine solidarische Gesellschaft, hätte er vielleicht gesagt. Von einer drastischen Erhöhung von Hartz IV zu einer echten Grundsicherung hätte er möglicherweise geschwärmt. Von einer Vermögensabgabe für Besserverdienende. Den Arbeitslosen in Wuppertal hätte er Mut zugesprochen. Eine Förderung der erneuerbaren Energien, der modernen Nahverkehrsmittel, der Energieeffizienz durch Stadtteilsanierung, der medizinischen Grundversorgung auch für Ältere und eine Förderung der Kinderbetreuung und des Schulsystems könnten, so hätte Peter Hintze vielleicht detailliert vorgerechnet, dazu führen, dass in Wuppertal Vollbeschäftigung herrscht. Die Bergische Universität könnte binnen weniger Jahre, so hätte der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium vielleicht prophezeit, durch die Abschaffung von Studiengebühren zu der größten Hochschule der Nation werden. Junge Menschen könnten dann dort die Zukunft dieses Landes durch intensive Forschung gestalten. Der Export innovativer Technologien sei durch den hohen Anteil mehrsprachig aufgewachsener Studierender gesichert. All dies hätte Peter Hintze sagen können. Hat er nicht. Nun, liebe Leser, haben Sie die Wahl.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Kampf um Kalorien
Intro – Den Bach runter
Nach dem Beton
Teil 1: Leitartikel – Warum wir bald in Seegräsern und Pilzen wohnen könnten
„Städte wie vor dem Zweiten Weltkrieg“
Teil 1: Interview – Stadtforscher Constantin Alexander über die Gestaltung von Wohngebieten
Für eine gerechte Energiewende
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Wuppertaler Forschungsprojekt SInBa
Keine Frage der Technik
Teil 2: Leitartikel – Eingriffe ins Klimasystem werden die Erderwärmung nicht aufhalten
„Klimakrisen sind nicht wegzureden“
Teil 2: Interview – Der Ökonom Patrick Velte über die Rückabwicklung von Nachhaltigkeitsregulierungen
Von Autos befreit
Teil 2: Lokale Initiativen – Einst belächelt, heute Vorbild: Die Siedlung Stellwerk 60 in Köln
Der Ast, auf dem wir sitzen
Teil 3: Leitartikel – Naturschutz geht alle an – interessiert aber immer weniger
„Extrem wichtig, Druck auf die Politik auszuüben“
Teil 3: Interview – NABU-Biodiversitätsexperte Johann Rathke über Natur- und Klimaschutz
Unter Fledermäusen
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Arbeitskreis Umweltschutz Bochum
Vielfalt in den Feldern
Belohnungen für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft – Europa-Vorbild: Österreich
Was bleibt
Die Natur und wir – Glosse
Hört das Signal
Intro – Gesund und munter
Privatvergnügen
Teil 1: Leitartikel – Die Zweiklassenmedizin diskriminiert die Mehrheit der Gesellschaft
„Das Gesundheitssystem wird unter Druck geraten“
Teil 1: Interview – Arzt Bernhard Winter über den Vorwurf einer Zweiklassenmedizin
Verbunden für die Gesundheit
Teil 1: Lokale Initiativen – Wuppertals Selbsthilfe-Kontaktstelle unterstützt Bürgerengagement
So ein Pech
Teil 2: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 2: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
Gesundheit ist Patientensache
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Heimat statt Pflegeheim
Teil 3: Leitartikel – Seniorengerechtes Bauen und Wohnen bleibt ein Problem
„Wo Regelmäßigkeit anfängt, sollte Nachbarschaftshilfe aufhören“
Teil 3: Interview – Architektin Ulrike Scherzer über Wohnen im Alter
Gemeinsam statt einsam
Teil 3: Lokale Initiativen – Wohnen für Senior:innen bei der Baugenossenschaft Bochum
Senioren und Studenten müssen warten
Das Wohnprojekt Humanitas Deventer verbindet Generationen – Europa-Vorbild: Niederlande
Wenn der Shareholder das Skalpell schwingt
… und der Patient zur Cashcow wird – Glosse
Einig im Treten
Intro – Arbeitskämpfe