Bald ist es wieder soweit. Die Bollerwagen werden mit Bierkästen, Schnapsflaschen und Birkenzweigen geschmückt. Und dann wird so viel getrunken, was nach den vorabendlichen Tanzveranstaltungen Kopf, Magen und Leber noch bewältigen können. Der 1.Mai hat sich in den letzten Jahrzehnten zum Schönwetterfeiertag entwickelt. Dabei geht es dem gesetzlichen weltlichen Feiertag wie seinen kirchlichen Kollegen. Ostern! Starb da nicht ein Hase? Himmelfahrt! Der Gründungstag der NASA? Pfingsten! Irgendwas mit Ochse überm Feuer? Auch der 1. Mai büßte an Bedeutung als „Tag der Arbeit“ ein. Die Menschen in einer individualisierenden Gesellschaft verlieren zunehmend den Bezug zu Tradition und Gruppenzugehörigkeit.
Der 1. Mai als gewerkschaftlicher Kampftag existiert bereits seit über 120 Jahren. Arbeiter in den USA streikten, um den Achtstundentag zu erzwingen. Später institutionalisierte sich der Termin weltweit. In Deutschland wurde der Tag – Ironie der Geschichte – erst nach Machtergreifung der Nazis zum staatlichen Feiertag. Sogar sozialdemokratisch geführte Regierungen der Weimarer Republik ließen die Arbeiter an ihrem Festtag weiter arbeiten. Im geteilten Deutschland von 1949 bis 1989 teilte sich auch der Feiertag. Hüben gab es Bratwurst und Bier, drüben eine Mischung aus Militärparade und Karnevalszug. Nach der Wiedervereinigung weitete sich das westliche Modell des arbeits- und sinnfreien Tages auf den Osten aus. Erst in den letzten Jahren, so der Vorsitzende des DGB-Bezirk NRW Guntram Schneider, habe es wieder mehr Interesse an den gewerkschaftlichen Veranstaltungen gegeben. „Der Mai hat an Aktualität gewonnen.“ Die Teilnehmerzahl sei in den letzten zwei bis drei Jahren angestiegen. Jetzt, im Angesicht drohender Massenarbeitslosigkeit, spreche, so der Gewerkschaftler, einiges dafür, dass sich viele Menschen in Deutschland an den DGB-Protesten unter dem Motto „Arbeit für alle!“ beteiligen.
Das Programm im Bergischen Land zeigt tatsächlich eine bemerkenswerte Vielfalt bezüglich der Aktionen und Akteure. In Wuppertal beginnt der Tag mit einem Ökumenischen Gottesdienst in der City-Kirche. Zu dieser Veranstaltung hat der DGB in sein Logo eigens ein Kreuz eingefügt. Bei jener Veranstaltung teilen sich drei Rednerinnen und Redner das Thema. Während Uta von Winterfeld vom Wuppertal-Institut (siehe Interview nächste Seite) problematisiert, um welche Art von Arbeit es in Zukunft gehen kann, fragt Birgit Timmermann vom Katholikenrat, wen das „Alle“ im Motto des Tages meint. Tatsächlich sind die Folgen der Finanzkrise in anderen Ländern sehr viel dramatischer. Dietmar Bell von ver.di schlussendlich wird über das Thema „Fairer Lohn“ sprechen. Später wird SPD-Bundesvorsitzender Franz Müntefering auf dem Laurentiusplatz referieren. Das Spektrum der beteiligten Gruppen ist weit: Einzelgewerkschaften, Amnesty International, Frauen- und Migrantengruppen, SPD, Grüne, Linke und sogar die altehrwürdige DKP beteiligen sich am Fest. Ähnlich bunt geht es in den Nachbarstädten zu. In Solingen findet zusätzlich zum Ökumenischen Gottesdienst eine Gebetsandacht in der Moschee des islamischen Kulturvereins statt. Ein Halbmond ist im DGB-Logo allerdings noch nicht berücksichtigt. In Remscheid werden DGB-NRW-Chef Guntram Schneider und NRW-Regierungschef Jürgen Rüttgers sprechen.
Es ist kaum zu glauben, wie Marktradikale in Talkshows inzwischen zu Rätesozialisten mutieren
„Zwei echte Arbeiterführer“, scherzt Schneider vorab, und spielt auf das bislang nicht immer erfolgreiche Agieren des Ministerpräsidenten in Sachen BenQ, Nokia und Opel an. Der Gewerkschaftsvorsitzende wird sich, so seine Aussage, von denen, die erst seit einigen Monaten neoliberalen Ideen kritisch begegnen, klar abgrenzen. „Es ist kaum zu glauben, wie Marktradikale in Talkshows inzwischen zu Rätesozialisten mutieren.“ Jene würden nach Beendigung der Krise aber weitermachen wie bisher. „Die wollen das Kasino schnell wieder öffnen. Wir aber wollen, dass es dauerhaft schließt.“ Schneider fordert eine internationale Zertifizierung von Finanzprodukten. „Jeder Haarföhn bekommt ein Sicherheitssiegel, damit Sie ein Kurzschluss nicht umbringt.“ Für Vermögensanlagen müssten da gleiche Maßstäbe gelten.
Aber auch anderen Unterstützern gewerkschaftlicher Forderungen begegnet Nordrhein-Westfalens Chefgewerkschaftler skeptisch. Die Einheitsgewerkschaft müsse zwar für viele politische Strömungen eine Heimat bieten. Allerdings, Parteien, die nicht regieren, sondern nur entlarven und anklagen wollen, seien wenig hilfreich, erklärt Schneider. „Entlarven und anklagen können wir selbst.“
Über den 1. Mai hinaus wird das Thema „Arbeit für alle!“ aktuell bleiben. Wichtige Unternehmen der Automobilindustrie stehen vor der Insolvenz. Und gerade das Bergische Land ist von diesem Wirtschaftszweig stark abhängig. Die Gewerkschaften werden sich noch einiges einfallen lassen müssen. Denn in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit ist Streik eine eher stumpfe Waffe.
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