Kostenloser Nahverkehr – wo gibt’s den in Europa? Im belgischen Hasselt hat man das freie Fahren bereits versucht. Weil die Fahrgastzahlen aber explodierten, kostet es jetzt wieder. Die kleinen französischen Städtchen Aubagne und Vitré sind mittendrin im Prozess des kostenlosen Nahverkehrs, bislang mit stetig steigenden Passagierzahlen. Doch damit kommen auch die Probleme: zu wenig Busse für zu viele Menschen, verlängerte Haltezeiten an den einzelnen Stationen und damit Verspätungen. Die mit Abstand größte europäische Stadt, die kostenlosen Nahverkehr bietet, liegt in Estland: Seit Januar 2013 können in der Hauptstadt Tallinn alle Einwohner sowie Schüler und Personen über 65 Jahren, die in Estland wohnen, öffentliche Verkehrsmittel kostenfrei nutzen. Eine Chipkarte à zwei Euro genügt, um unbegrenzt mit Bus und Bahn zu fahren.
Finanziert wird das freie Fahren über die Steuer derjenigen, die ihren Hauptwohnsitz von der Peripherie der Stadt nach Tallinn ummelden. Die Einführung hat positive Konsequenzen: Die Einwohnerzahl stieg binnen zwei Jahren um 15.000 an. Acht Prozent der Tallinner wechselten vom Auto auf Bus oder Bahn. Ein Konzept, das funktioniert. Kritiker warnten zunächst vor den Kosten durch die Umstellung. Sie befürchteten, dass jährlich rund zwölf Millionen Euro im städtischen Haushalt fehlen würden. Doch von Finanzierungsproblemen keine Spur: Die Stadt macht sogar noch Gewinn – rund 20 Millionen Euro im Jahr. Schwierig wird so ein Konzept erst, wenn Kosten und Steuereinnahmen sich nicht mehr decken. In der Hauptstadt des kleinen Lands auf dem Baltikum hat der ehemalige Bürgermeister Edgar Savissar das Projekt auf den Weg gebracht. Aber zuvor hat er erst einmal die Wähler befragt: Etwa 75 Prozent sprachen sich für den kostenlosen Nahverkehr aus. Unmittelbar danach wurden mehrere Fahrstreifen in der Innenstadt zu Busspuren; die Ampelschaltung so umprogrammiert, dass sie für Bus und Bahn besonders schnell auf Grün wechselt. Auch, wenn die Ampelschaltung jetzt viele Autofahrer ärgert, ist sie ein sinnvolles Instrument, Busse und Bahnen vor Verspätungen zu bewahren. Wer einen Termin hat, kennt das Dilemma. Dass der Bus Vorrang haben sollte, steht außer Frage: kann er voll besetzt bis zu 110 Personen transportieren, das Auto hingegen bloß fünf. Ein entscheidendes Argument.
Bereits in puncto Digitalisierung gilt Estland als das Musterland der EU. Die Esten haben Skype erfunden und können online zur Wahlurne gehen. Was den Nahverkehr angeht, will Tallinn bis zum Jahr 2020 zwei Tramlinien ausbauen und alte Busse nach und nach durch neue, umweltfreundliche Modelle ersetzen. Außerdem will die Stadt mehr Bürger aufs Rad bringen. Was Tallinn schafft, kann schnell andere europäische Städte inspirieren.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
honigdachs.com | Blog von Schriftsteller und Radfahrer Christoph Brumme
talradler.de | Wuppertaler Fahrradblog von Christoph Grothe
pd-f.de | Pressedienst Fahrrad, Portal unseres Interviewpartners Gunnar Fehlau
Thema im September: JUNGE POLITIK
Sind Unternehmer die besseren Politiker?
Glaubenseifer und politischer Verrohung demokratisch begegnen. Was wäre, wenn Du das Sagen hast? Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Philosoph auf zwei Rädern
Das Fahrrad feiert seinen 200. Geburtstag und wirkt heute altersweise – THEMA 08/17 VERKEHRT WOHIN?
„Es muss mehr Platz für Radfahrer geschaffen werden“
Radfahr-Experte Gunnar Fehlau zur Zukunft des Fahrrads – THEMA 08/17 Verkehrt Wohin?
Fahrradenthusiasten
Die IG Fahrradstadt möchte das Fahrrad im Alltag der Wuppertaler etablieren – THEMA 08/17 Verkehrt Wohin?
Senk ju for halting jur Maul
Warum mich Bahnfahren nicht zu einem besseren Menschen macht – Thema 08/17 Verkehrt Wohin?
Kulturschock
Intro – Kunst & Kultur
Der Kulturkampfminister
Teil 1: Leitartikel – Wie Wolfram Weimer sein Amt versteht
„Kultur muss raus ins Getümmel“
Teil 1: Interview – Philosoph Julian Nida-Rümelin über Cancel Culture und Demokratie
Querschnitt der Gesellschaft
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Kulturbüro Wuppertal als Partner der freien Szene
Inspiration für alle
Teil 2: Leitartikel – Wer Kunst und Kultur beschneidet, raubt der Gesellschaft entscheidende Entwicklungschancen
„Mich hat die Kunst gerettet“
Teil 2: Interview – Der Direktor des Kölner Museum Ludwig über die gesellschaftliche Rolle von Museen
Kultur am Kipppunkt
Teil 2: Lokale Initiativen – Bruno Wenn vom Kölner Kulturrat über die Lage der städtischen Kulturhäuser
Unbezahlbare Autonomie
Teil 3: Leitartikel – Die freie Theaterszene ist wirtschaftlich und ideologisch bedroht
„Ich glaube schon, dass laut zu werden Sinn macht“
Teil 3: Interview – Freie Szene: Die Geschäftsführerin des NRW Landesbüros für Freie Darstellende Künste über Förderkürzungen
Zwischen Bar und Bühne
Teil 3: Lokale Initiativen – Das Neuland als kulturelles Experiment im Bochumer Westend
Die Kunstinitiative OFF-Biennale
Wer hat Angst vor Kunst? – Europa-Vorbild: Ungarn
Was hat Kultur denn gebracht?
Eine Erinnerung an Nebensächliches – Glosse
Branchenprobleme
Intro – Gut informiert
Journalismus im Teufelskreis
Teil 1: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst
„Nicht das Verteilen von Papier, sondern Journalismus fördern“
Teil 1: Interview – Der Geschäftsführer des DJV-NRW über die wirtschaftliche Krise des Journalismus
Pakt mit dem Fakt
Teil 1: Lokale Initiativen – Das Zentrum für Erzählforschung an der Uni Wuppertal
Teuer errungen
Teil 2: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
„Die Sender sind immer politisch beeinflusst“
Teil 2: Interview – Medienforscher Christoph Classen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Aus den Regionen
Teil 2: Lokale Initiativen – Das WDR-Landesstudio Köln
An den wahren Problemen vorbei
Teil 3: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen
„Das Gefühl, Berichterstattung habe mit dem Alltag wenig zu tun“
Teil 3: Interview – Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing über Haltung und Objektivität im Journalismus