Eine dunkle Bühne beim Einlass. Schemenhafte Wohnwelten. Dann betreten die vier Schauspieler:innen das Grau, bilden Tableau Vivants, die zeigen sollen, wie vertraut sie miteinander sind. Alltag, Urlaub, alles dabei und das wohl seit Jahren. Alle sind verheiratet: Sonja mit Bruno und Jana mit Erik. Alles gut? Es scheint so. Die Bühne dreht sich, beleuchtet wird eine Zweiraumwohnung mit ähnlichem Interieur, doch es sind zwei Wohnzimmer, in denen sich die bekannte populäre zeitgenössische Theaterform von Lutz Hübner und Sarah Nemitz abspielen wird. Dramatische Alltagsgegebenheiten auch an diesem Abend im Wuppertaler Engelsgartentheater, an dem es um „die Wahrheiten“ gehen soll. Ein vertracktes Thema, spätestens seit in USA Kellyanne Conway schwachsinnigerweise selbst Fakten mit möglichen Alternativen Wahrheiten verbunden hat. Naja, so weit geht es im Stück „Die Wahrheiten“ natürlich nicht. Hier prallen eher Selbstbefindlichkeit und gender-generalities aufeinander, und das führt zu endlosen Phrasen des ehelichen Alltags zwischen Emanzipation und Machotum und weil die jeder kennt, fühlt sich auch jeder angesprochen. Episches Theater nach Brecht ist das natürlich nicht.
Der Ausgangsplot ist einfach. Sonja (Silvia Munzón López) und Bruno (Stefan Walz) kommen von einem Kinobesuch nach Hause, und erhalten von Jana (Maditha Dolle) und Erik (John Sander) eine SMS, in der diese die Beziehung abrupt abbrechen und auch darüber nicht diskutieren wollen. Zwei Sätze, die eine Lawine von Missdeutungen und Verletzungen auslöst. Mögliche Probleme gelangen an die Oberfläche, die Zuschauer:innen erfahren Familiengeheimnisse und Ursachen aus der Vergangenheit. Der Sohn von Bruno, einem erfolgreichen Leiter einer Finanzagentur, ist unehelich, aber angenommen, Sonja hat das „verbotenerweise“ Freundin Jana erzählt, Bruno tobt, trinkt und erklärt aus seiner Sicht. Das wohlsituierte Paar (Doppelverdiener) fühlt sich ausgebeutet und weggestoßen. Er denkt an seine männliche „Ehre“, sie an das Gespräch, dessen Inhalt ihren minderjährigen Sohn erreichen würde.
Die Bühne dreht sich und nun erfahren wir die Vorgänge aus Sicht von Jana und Erik und warum die SMS überhaupt geschrieben wurde. Hier sind die Dialoge im Grundsatz ähnlich. Hier kämpfen die Geschlechter den uralten Streit. Aber wie das immer so ist, vergeblich. Erik, der Filmkritiker, geht immer wieder mit den bekannten Stanzen auf seine scheinbar labile Frau zu, die sich vor vier Jahren bei einem Coaching-Wochenende sexuell belästigt und von Bruno verraten fühlte. Dummerweise wird sie auch vom Ehemann betrogen, was die Zuschauer:innen ja schon seit der ersten Szene wissen, aber nun wie ein Damoklesschwert über der Beziehung hängt.
So weit so gut, die Konstruktion erinnert ein wenig an TV-Nachmittagssoaps, aber die vier Protagonisten sind dennoch wie immer sehenswert, die Inszenierung von Johanna Landsberg ohne viel Ablenkung und Bewegung auf der Bühne schlüssig. Szene Drei führt die jeweiligen Geschlechtsgenoss:innen wieder zusammen. Die Frauen sprechen sich aus, die Männer raufen sich machogerecht zusammen. Nur blöd, dass Jana das Jahrtausende alte Spiel endlich durchschaut hat und den Gatten verlässt. Doch noch ist der wirkliche Kampf längst nicht gewonnen und das ist die einzige Wahrheit. Und noch etwas: Feminismus und Machotum sind keine zwei Seiten einer Medaille.
Die Wahrheiten | 18., 26.11., 9.12. | Theater am Engelsgarten, Wuppertal | 0202 563 76 66
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