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Lemming
Frankreich 2005, Laufzeit: 129 Min.
Regie: Dominik Moll
Darsteller: Charlotte Rampling, Charlotte Gainsbourg, André Dussollier, Laurent Lucas, Michel Cassagne, Jacques Bonnaffé, Veronique Affholder

Die Legende vom kollektiven Selbstmord der Lemminge in nautischen Tiefen, so weiß der Tierarzt (Michel Cassagne), ist eine "absurde, romantische Theorie". Die 15 Zentimeter kleinen Nager sind vielmehr brillante Schwimmer, die beim Versuch, Meeresarme zu überqueren, vor Erschöpfung ertrinken. Was der Tierarzt sich nicht erklären kann, ist, wie ein in Skandinavien heimischer Lemming ins Abwasserrohr der Küche von Alain und dessen Frau Bénédicte gelangen konnte, die seit drei Monaten im schmucken Bel Air in Südfrankreich wohnen. Alain ist Ingenieur und hat gerne alles unter Kontrolle, ist aber gerade zu sehr mit der Entwicklung einer fliegenden Überwachungskamera beschäftigt, als dass ein verirrter Lemming ihn aus der Bahn werfen würde. Doch die pelzige Erscheinung ist lediglich ein Vorbote weiterer, ausartender Irritationen im sorglosen Alltag der Musterehe: Alains Chef Pollock (André Dussolier) kündigt sich eines Abends samt Gemahlin Alice (Charlotte Rampling) zum Dinner an. Das alte Paar verspätet sich, Alice verflucht ihren Ehemann bei Tisch und beleidigt die Gastgeber. Am nächsten Tag versucht sie, Alain bei der Arbeit zu verführen, wenig später taucht sie noch einmal bei ihm zu Hause auf, wo sie sich erschießt. Alains Welt steht Kopf: Der Kontrollfreak ist überfordert und hofft vergeblich auf eine Beruhigung der Lage. Denn er befindet sich erst am Anfang einer unheimlichen Odyssee, während der seine Frau sich ihm zunehmend entfernt, sein Chef ihn demütigt und er von seinem Umfeld in eine tödliche Spirale verwickelt wird, in der sich schließlich Sein und Schein verwischen. Irgendwann wird der auf narrative Logik spekulierende Zuschauer dabei den Faden verlieren, und er muss sich auf Molls finstere Reflektion über die Neigung des Menschen einlassen, irgendwann alles für selbstverständlich zu nehmen, über die naive Anmaßung, den Partner wirklich zu kennen, über unbedarfte Zuversicht und über die Zerbrechlichkeit gesellschaftlich etablierter Hüllen. Denn irgendwann, und es ist ein sehr fließendes irgendwann, bricht das Irreale herein, und so bleibt es nicht nur Claude Chabrols vermeintliche Harmonie der bürgerlichen Ehe, an der Moll hier wie sein Vorbild, aber zugleich brillant eigenwillig sägt. Dass Bénédicte sich zunehmend von ihrem Mann entfremdet und dabei scheinbar mit dem Geist der verstorbenen Alice zu verschmelzen beginnt, wirft Alain schließlich vollends aus der Bahn. Der Kontrollverlust nimmt Überhand, Wahnwitz scheint sich Alains Wahrnehmung zu bemächtigen, und damit bringt Moll die Alptraumszenarien eines David Lynch ins Spiel, in der die arrangierten, subjektiven Eindrücke nicht mehr nur eindimensional deutbar bleiben. Auch Moll weiß mit sorgsam bearbeitetem Sound die bedrohliche Atmosphäre zu schaffen, sei es ein Windhauch im Freien oder sirenenhafte Streicher, die irgendwann das anfängliche Klaviermenuett zur Ehe-Idylle ersetzen. Doch bleiben Musik und ihr Einsatz immer minimalistisch und zugleich gelungen effektiv. Anders als Lynch setzt Moll auch nicht auf visuelle Effekte: Sowohl Schauspielführung als auch Inszenierung bleiben vorherrschend schlicht, und damit nah und alltäglich. Nichts ist selbstverständlich, das junge Glück ebenso wenig wie die narrative Ebene des Films, die den Zuschauer zur Interpretation ermuntert, während er mit Dominik Moll eine Reise ins Unterbewusste, Unbewusste, Phantastische und vielleicht in die eigene Sorglosigkeit unternimmt. "Werden Sie nie wütend?", fragt Alice Bénédicte, "Fürchten Sie sich nicht vor dem Tag, an dem es nicht mehr so gut läuft?". Alice jedenfalls hat sich über Wasser gehalten - bis zur Erschöpfung.

(Hartmut Ernst)

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