1922 geboren, wurde Judy Garland als Tochter eines Kinobesitzers in den Vorstellungspausen schon mit zwei Jahren auf die Bühne gestellt. Ein frühes Beispiel für Kindesmissbrauch in der Kulturbranche. Bald zieht die Familie in der Hoffnung auf eine Filmkarriere nach Kalifornien, 1932 direkt nach Hollywood. Schon 1929, als Siebenjährige, hat Garland ihren ersten Filmauftritt, doch erst mit den MGM-Filmen „Broadway Melody“ (1938) und „Der Zauberer von Oz“ (1939) gelingt ihr der Durchbruch. Da ist sie siebzehn Jahre alt, gut zehn Jahre später ist ihre Filmkarriere so gut wie beendet. Ihr Ruf als schwierige Persönlichkeit hat sich gegen sie wendet. Hintergrund ist der jahrelange Tabletten- und Drogenmissbrauch, mit dem sie versuchte, dem andauernden Stress bei den Dreharbeiten standzuhalten. In den suggestiven Rückblenden von Rupert Goolds Biopic „Judy“ wird der Teeniestar geradezu zum Tablettenkonsum genötigt. Der Kern des Films ist jedoch in den späten 60er Jahren angesiedelt, als Garland, nachdem sie die Filmkarriere durch eine sehr erfolgreiche Gesangskarriere eingetauscht hat, doch wieder von ihren psychischen Problemen heimgesucht wird. Mit ihren zwei jüngsten Kindern in Hotels unterwegs, droht ihr Ex-Mann, der Produzent Sidney Luft, das Sorgerecht für die Kinder einzuklagen. Um finanziell wieder stabil dazustehen und für ihre Kinder sorgen zu können, nimmt sie ein Angebot aus London an. Dafür muss sie sich zunächst zumindest temporär von ihren Kindern trennen. Das wirft sie abermals aus der Bahn. Renée Zellweger („Bridget Jones“), die auch alle Songs im Film singt, wird für ihre Darstellung der Judy Garland derzeit als Oscar-Favorit gehandelt. Die Zerrissenheit zwischen liebenswürdiger Mutter, Frau und Freundin und einem unberechenbaren, von Drogen zerrütteten Nervenbündel zwischen Arroganz und Selbstzweifel, balanciert Zellweger so aus, dass beide Seiten des Stars nebeneinander stehen können, ohne dass man sie nur als Opfer oder nur als Täter sieht, wenn sie ihr Umfeld beschimpft, eine Show platzen lässt oder sich mal wieder kurz in eine Märchenfantasie flüchtet. Garlands Signature-Song „Over the Rainbow“ aus „Der Zauberer von Oz“ fungierte für viele Ausgegrenzte als Glücksversprechen, so wurde sie auch früh zur Ikone der Gay-Community. Schon auf ihrer Beerdigung mit über 20.000 Trauernden in New York waren erste Regenbogen-Flaggen zu sehen, in der Nacht wandelte sich bei einer brutalen Razzia in der Christopher Street die Trauer in Wut. Der Rest ist Geschichte. Die Sehnsucht auf ein gutes, selbstbestimmtes Leben blieb für Garland, die mit 47 Jahren an einer Überdosis Tabletten starb, unerfüllt. Die Rückblenden in ihre Jugend zeigen anders als die großartigen Szenen hinter und auf der Bühne im London des Jahres 1969, wo sich Garland vor allem selber im Weg steht, ein Hollywood des Machtmissbrauchs, der Manipulation und der fiesen alten Männer. Hier zeigt der Film auch ungeahnte Anschlussmöglichkeiten an die Gegenwart.
Cool: Nachdem Kenneth Branagh pompös, aber vergleichsweise gediegen den Agatha-Christie-Klassiker „Mord im Orient-Express“ neuverfilmt und demnächst das Remake zu „Tod auf dem Nil“ folgen lässt, greift Regisseur Rian Johnson („Looper“, „Star Wars: Episode VIII“) einfach selbst zur Feder und huldigt der englischen Krimiautorin mit einem eigenen Whodunit namens „Knives Out – Mord ist Familiensache“. Nachdem es sich der Patriarch Harlan Thrombey (Christopher Plummer) mit seiner kompletten Familie verscherzt hat, liegt er am Abend seines 85. Geburtstags mit aufgeschlitzter Kehle auf dem Sofa. Ein unbekannter Auftraggeber setzt den Detektiv Benoit Blanc (Daniel Craig) auf den Fall an. Der versammelt auf dem Gut des verstorbenen Erfolgsautoren die gesamte Sippe (allesamt grandios: Mike Shannon, Jamie Lee Curtis, Chris Evans, Toni Colette, Don Johnson). Dabei hat so ziemlich jedes Familienmitglied ein Motiv für die Tat – und eine Lüge auf der Zunge. Oder zieht am Ende Marta (Ana de Armas), die brasilianische Pflegerin des Ermordeten, die Strippen? Zwischenfazit des Ermittlers: „Der Alte wohnt praktisch in einem Cluedo-Brett.“ Superb: Mit Humor, Raffinesse, und Stil führt uns Johnson durch die Abgründe der elitären Bagage, hält so manchen Twist parat und fährt kriminelle Verwicklungen auf, die man so noch nicht gesehen hat. Ebenso wie Brannagh setzt auch Johnson auf eine namenhafte Besetzung, nur wirkt das Drumherum ungleich weniger angestaubt. Twistreich, frech und elegant hievt Johnson Agatha Christie in die Jetztzeit und überzeugt auf ganzer Linie – außer mit Daniel Craig, dessen Stimme hier markanter ist als sein Spiel.
Außerdem neu in den Kinos in Wuppertal, Solingen und Remscheid: Stanley Nelsons Doku „Miles Davis: Birth of the Cool“, Elizabeth Banks' Action-Reboot „3 Engel für Charlie“ und David Stotens Kinderspaß „Thomas und seine Freunde – Große Welt! Große Abenteuer!“.
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