Lausbubencharme kann er genauso wie Analyse: Deniz Yücel ist ein seltener Fall eines Journalisten, der so etwas wie ein Popstar wurde. Und so hatte die Lesung aus seinem Buch „Agentterrorist“ auch etwas vom Auftritt einer charmanten Berühmtheit. Deutlich wurde beim Abend mit dem Redakteur Stefan Seitz aber: Der Mann weiß, wovon er spricht, und er kann es auch einordnen.
Yücel war ein Jahr in Untersuchungshaft in der Türkei, wo er als Korrespondent der Zeitung „Die Welt“ arbeitete und kritisch über die Regierung Erdoğan und ihren autoritären Kurs berichtete. Eine Welle der Solidarisierung begleitete sein Schicksal. Am 16. Februar 2018 wurde er entlassen – womit die Sache freilich nicht ausgestanden war: Voraus ging die Anklageerhebung mit einer drohenden Haftstrafe von bis zu 18 Jahren. Doch er war in Freiheit. Heute sagt er zu dem Schritt: „Ich bin meinem Geiselnehmer so auf die Nerven gegangen, dass sie gesagt haben: ‚Hau ab‘.“
Solche Sätze sind frech und eingängig; und auch in der Börse wurde dem Publikum einiges geboten: „Zwischen Gangster und Teppichhändler“ nannte er etwa Erdoğans Haltung, die er als billigen Plan beschrieb: Dass Yücel in Deutschland stark wahrgenommen wurde, habe es schlicht reizvoll gemacht, ihn festzuhalten. Nun, so der Journalist, war er „Geisel“. Ohne falschen Respekt auch der vermittelte Eindruck, als es um Haftumstände wie das Mitlesen von Post seiner Frau ging: „Hallo Lesekommission: Hier stempeln!“, habe er seinen Bewachern signalisiert. Hier wie überhaupt seit seiner Entlassung zeigt Yücel sich ungebeugt und wach gegenüber der Entwicklung des türkischen Systems – nicht zuletzt mit solchen Sprüchen. Message: Er schenkt ihnen nichts.
Doch der Vorwurf der Eitelkeit träfe wohl ebenso wenig wie der einer bloßen Retourkutsche. Wie Yücel heute erzählte, hatte er Hinweise erhalten, nach ihm werde gefahndet, und sich daraufhin in den Schutz der türkischen Residenz begeben. Auf Konfrontation gegangen sei er erst, als selbst auf die Bundesregierung gegen seine drohende Verhaftung offenbar nicht zu zählen war: „Ich war nicht darauf aus, mich zum Posterboy machen zu lassen.“
Dass er es heute dennoch ist und auch so wirkte, mochte man ihm an diesem Abend nicht verdenken – und Erdoğan-Fans sogar herzlich zumuten. Doch genauso wie der effektbewusste Spötter begegnete in der Börse auch der präzise Beobachter und Kommentator. „Nach dem Putsch waren dieselben Leute an der Macht – aber als Junta.“ Als Usurpatoren also, die auf undemokratischen Mitteln aufbauen. Das klang nicht bloß nach Frechdachs. Und wo Yücel heute Foltervorwürfe erhob, gelesen aus seinem Buch – über einen Mitgefangenen: Ihm habe er vorgeschlagen, über dessen Misshandlung später zu berichten. Das Kapitel schließt mit beruhigenden Worten an den Mann, der demnach noch unter dem Eindruck der Schläge stand: „Schlaf jetzt.“ Hier sprach kein Star: Hier ließ er ein Schicksal sprechen.
„Agentterrorist!“ Als schnarrender Ruf erklang diese auf ihn gemünzte Wortschöpfung Erdoğans heute komisch in den Saal und sorgte für Erheiterung. Doch bei einer Bezeichnung Yücels für denselben Sachverhalt klang durch, dass es ihm bei aller Sexyness doch um die Sache ging: „Eingriff der Exekutive in ein laufendes Verfahren“, lautete der knappe Befund zur Vorverurteilung durch den Präsidenten. Nicht nur Rächer, nicht nur Charmeur: Yücel, darf man sagen, bleibt glaubhaft kritischer Journalist. Anlässe gibt Ankara sicher genug.
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