Spätestens als mein Nebenmann aufsprang und brüllte, dass da zu wenige Sänger auf der Bühne seien, denn das wäre lauter, da wurde vielen Zuschauern nach der Pause klar, dass die sekundengenauen Anweisungen, die sie beim Strömen zur Erfrischung unter ihren Theatersesseln entdecken durften, tatsächlich Eingriffe ins Geschehen auf der Bühne waren. Bis dahin hörte man mal Gelächter oder spontanen Beifall an der falschen Stelle aus dem Rang, alles Attribute vom Regisseur Daniel Wetzel und Rimini Protokoll, die irgendwie auch längst nicht mehr aus ihrer Haut heraus kommen und bei John Cages Musiktheater-Dada „Europeras 1&2“ in der Wuppertaler Oper hier und da affine Appendixe unterschmuggelten. Sie lassen Puristen vielleicht erschauen, aber besser war Heiner Goebbels‘ Jahrhunderthallen-I-Ging 2012 in Bochum auch nicht, und Cage (1912 bis 1992) hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, solange dafür gewürfelt wird! Riminis Version ist jedenfalls pures Vergnügen. Gerade versucht der Kenner dort im altehrwürdigen Gebäude mal wieder eine Zeitlang die zufälligen Fetzen zu ergründen (um der Begleitung zu imponieren), scheinen manche tatsächlich die irische Prinzessin aus dem Programmheft zu suchen und verlassen entnervt nach kurzer Zeit den Zuschauerraum – sie war einfach nicht zu finden. Aber die meisten halten die Kunst schlicht aus und werden belohnt.
Immer noch steht das Zentralzitat Cages über allem: „200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt. Nun schicke ich sie alle zurück.“ Schön wäre es ja, und gar nicht schwierig, wenn da nicht dieses chinesische Noten-Gefledder auf 64 Feldern wäre und wenn der US-amerikanische Avantgarde-Composer nicht gleich alle 128 Opern ins Rennen um den geschleuderten Gehirnknoten geschickt hätte. Rimini Protokoll haben sich jedenfalls ausgiebig Gedanken zum Procedere gemacht, schicken Statisterie und Bühnenarbeiter demonstrativ übers leuchtende Schachbrett und plündern in Wuppertal genüsslich die Fundi von Bühnenbild und Kostümabteilung.
Zu Beginn wurde aber mit dem zweiten Teil erstmal das Terrain abgesteckt. Stellvertretend für 49 Länder stehen 27 Tableaus, auf denen 9 Orte in Europa abgebildet werden, schön nach dem Zufallsprinzip einzeln oder gemischt auf Sendung geschaltet. So mischen sich die dort (in Echtzeit) von Sängerinnen und Sängern gesungenen Arien mit Straßengeräuschen, Trommeln und Zufallsbegegnungen mit Containerschiffen oder (bei 3:41 Min) einer wilden abgelegenen Felsschlucht. Aus allen eingeflochtenen visuellen Statements versucht jeder Zuschauer seine Konzentration im Chaos zu finden, während Teile der Musik auch vom Orchester im Saal gespielt werden. Mir fällt die alte Kunstkopf-Quadrophonie ein. So müsste das im Aufnahme-Kopf selbst geklungen haben.
Nach der Pause ist die Bühne ziemlich leer, die Zuschauer konzentrieren sich auf ihre Zeitfenster, die zehn Sänger und Sängerinnen auf ihre Einsätze im richtigen Planfeld. Alles bleibt immer unvollständig, und genau das ist das eigentliche Prinzip hinter Cages Opernmatrix. „Schön wäre es, es gäbe die Vereinigten Staaten von Europa.“ Das ist Rimini Protokoll, nicht Cage, aber es ist mein Statement des glanzvollen Abends.
„Europeras 1&2“ | R: Daniel Wetzel | Fr 1.3., Sa 6.4. 19.30 Uhr | Opernhaus | 0202 563 76 66
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