Wer hinabsteigt in die wirklich schön restaurierten Kellerräume des Hagener Osthaus Museums, der entdeckt zurzeit zuerst Kinder in inszenierten Posen. Ein leicht bekleidetes Mädchen in einem dunklen Stollen, dicke Stempel und ein Licht, nein, nicht der Steiger kommt in den finnischen Wäldern, wo die renommierte Fotografin Aino Kannisto diese Serie kreiert hat. Vielleicht kommt ein Wolf oder eine Schar Elfen, der nordeuropäische Düsterwald hat jedenfalls viele Mythen und Sagen zu bieten. Diese verborgenen Geheimnisse finden sich in jeder der 33 Fotografien mit dem Titel „Little Angels“, die noch bis Mitte September zu sehen sind, und da gibt es nicht nur verwunschene Frösche und fünf Nixen zu sehen, auch Kinder im Unterholz und selbstvergessen am Wasser. Nach 20 Jahren Selbstporträts wollte Aino Kannisto mal was anderes machen und so wurden es Kinder in einer „Kombination aus Realität und Fantasie“, wie sie selbst analysierte.
Weiter geht’s hinauf in die nächste Vision von Schein und Wirklichkeit. Monika Kus-Picco zeigt hier in „Floating“ mächtig ungewöhnliche, abstrakte Leinwandbilder, Arbeiten auf Papier und Skulpturen, die alle aus pharmazeutischen Substanzen bestehen sollen. Eigentlich will ich nach den großformatigen „Blood Cells“ (2022) gar nicht mehr weiter schauen, doch je näher der Betrachter den Bildern kommt, desto detailreicher und interessanter werden sie. Also überwinden und rein. Reste von Tablettenkapseln tauchen auf, hier und da hat die Farbe Substanz und die Substanzen Farbe, alles spielt mit der Fantasie, die unvorstellbar vielen Farben wechseln, erstaunlich, wie die Pharmaindustrie „Mother’s little helper“ so schön bunt macht. Auf „Erection Day“ (2022) bleibt natürlich alles blau, „Daddy’s little helper“ haben in der jüngsten Forschung Anzeichen gezeigt, bei Alzheimererkrankungen hilfreich zu sein.
Hier schneidet sich also die Kunst mit der Wissenschaft, selbst Hermann Nitsch (1938-2022), Landsmann der Österreicherin mit brasilianischen Wurzeln war von der außergewöhnlichen Malerei angetan, stiftete einen Text und Wandzitate. Dass der kongeniale Blut-Orgien-Meister das „Medikamente-Mischen“ als malerische Aktionskunstverstand, ist klar, auch für Monika Kus-Picco die immer mit OP-Handschuhen an den Pinsel muss, ist das Ergebnis manchmal unvorhersehbar, denn die Reaktion der verschiedenen Substanzen auf der Leinwand lassen sich kaum steuern. Die Präparate (natürlich alle mit abgelaufener Haltbarkeit) wurden akribisch im Mörser zerrieben, und dann mit medizinischen Flüssigkeiten vermischt. Aus der Unmenge an lethalen und non-lethalen Stoffen in der Pharmazeutik ergeben sich so unendliche Kombinationsmöglichkeiten. Und so kann man getrost noch einmal Hermann Nitsch zitieren: „Mit so einer Ausschließlichkeit wie Monika Kus-Picco hat noch niemand Medizin mit Kunst verbunden“. Genau: Für uns Betrachter öffnen sich in den Bildern ein ganz neuer Bilder-Kosmos und ein merkwürdiger anderer Bezug zum Medikament an sich. Irgendwo steht noch eine Gehirn-Skulptur aus bunten Tabletten und Kapseln, ich überlege gerade, ob Apotheker diese Kunst mögen würden.
Monika Kus-Picco: Floating / Aino Kannisto: Little Angels | bis 11.9. | Osthaus-Museum Hagen | 02331 207 31 38
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