„Size matters“, die Größe macht den Unterschied – speziell in der so flexiblen Kunstform Fotografie, die Berge und Planeten auf Briefmarkenformat schrumpfen und Mikroben zu meterhohen Monstern aufpumpen kann. Im Alltag macht man sich über dieses Phänomen wenig Gedanken, weil unser Hirn die realen Größenverhältnisse automatisch zurechtrückt. Zumindest bei bekannten Motiven. Was aber passiert bei Unbekannten? Was ist realistisch, was soll man glauben? Wenn irgendetwas „nicht stimmt“ an den Maßstäblichkeiten, ist Irritation vorprogrammiert. Am Größenregler zu drehen, verschiebt Wirkung und Bedeutung. Und kann manipulieren.
Eine facettenreiche Ausstellung für die ganze Familie im Kunstpalast schaut genauer hin und beleuchtet verschiedene Aspekte von Größe im fotografischen Abbild: in Kunst und Alltag, Werbung und Wissenschaft, von 1850 bis heute. Von Mikro-/Makrofotografie aus den Anfängen des Mediums (wie Ernst Heegers 3000-fach vergrößerte Föhren-Spinne von 1856) und frühen Röntgenbildern über Porträts aus alten Fotoalben, die in Postergröße zur Grimasse erstarren, bis hin zu digitalen Thumbnails, krass verpixelten Detailvergrößerungen und dem knallbunten Fototapetenraum mit einem All-over aus unsortiertem Bildmaterial, das Evan Roth 2019 am Tag der Geburt seiner Tochter aus dem Cache seines Browsers fischte. Die Kuratorin und Fotosammlungsleiterin Linda Conze hat im Wechselausstellungstrakt locker arrangierte Themenräume mit einem bunten Mix quer durch alle Zeiten eingerichtet: Aufnahmen und Serien von 50 Fotoschaffenden aus 170 Jahren, mehrheitlich aus dem eigenen Bestand, ergänzt durch Leihgaben. Jeder Bereich widmet sich einer Fragestellung mit knackigen Wandtexten und beispielhafter Bebilderung, so abwechslungsreich, dass es Spaß macht, auf Entdeckung zu gehen, Motive zu hinterfragen, Wirkungen zu prüfen und nebenher die eigene Wahrnehmung zu schulen.
Der Parcours startet mit dem markanten Plakatmotiv zur Ausstellung: ein scheinbar monströser giftgrüner Apfel mit Bissspuren im Vordergrund, der nicht allzu weit vom zarten Stamme gefallen ist. Der Abstand zwischen Baum und Frucht kann jedoch nicht wahr sein … Wie Kathrin Sonntag 2022 ihre Fotoreihe „Dinge im Hintergrund“ produzierte? Ist lösbar, bei genauem Hinschauen. Direkt nebenan erzählt Duane Michals 1973 eine komprimierte Fotostory in Schwarz-Weiß, die von Bild zu Bild neue Überraschungen bereithält: „Things are queer“ (1973), in der Tat, ein neckisches Verwirrspiel. Solche Aha-Effekte hat die Ausstellung noch häufiger zu bieten. Verblüffend ist allein schon, welch inspirierende Vielfalt dem Thema „Größe in der Fotografie“ abgewonnen werden konnte, wie viele verschiedene Facetten und jeweilige Wirkungen, Nutzungen und Funktionen flott und spielerisch angerissen werden, ohne durch Didaktik zu nerven oder durch Überfülle zu erschlagen. Nach dem Ausstellungsbesuch wird man garantiert die Fotowelt mit anderen Augen sehen. Vielleicht sogar darauf brennen, auf Fotopirsch zu gehen und mit etwas Glück Teil der Ausstellung zu werden: mit einem eigenen pfiffigen Motiv rund um verschobene Größenverhältnisse auf dem Monitor im letzten Raum.
Size matters. Größe in der Fotografie | bis 20.5. | Kunstpalast Düsseldorf | 0211 56 64 21 00
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