Ehrfurchtsvoll, stumm ein altes deutsches Arbeiterlied auf den Lippen steige ich die Treppen hoch in der Wuppertaler Kunsthalle. „Friedrich Engels – Ein Gespenst geht um in Europa“ heißt die historische Ausstellung im Jubiläumsjahr des großen Revoluzzers, auch Kapitalistensohn aus Barmen und selbst reicher Unternehmer im Baumwollbusiness des 19. Jahrhunderts. Eigentlich hätte er das manifestierte Gespenst ja fürchten müssen, doch im Herzen war er eben eher Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, der den armen Karl (Marx) willig unterstütze und ziemlich bewunderte („Marx war ein Genie, wir anderen höchstens Talente“).
Gedämpftes Licht, Vitrinen, das Funktionsmodell eines Steffenshammers, Rechnungen, Musterbücher für Bordüren aus Manchester, ein kleiner original Webstuhl. Kindheit und Jugend wohlbehütet zwischen Pietismus und belesener Mutter, natürlich Gymnasium, aber kein Abitur. Sein strenger Vater schickte ihn ein Jahr vorher ins Geschäft, dann nach Bremen zur kaufmännischen Ausbildung, Friedrich verbreitete seine humanistischen Ansichten bereits in Presse und Buchhandel („Briefe aus dem Wuppertal“ in Telegraph für Deutschland, 1839), mehr gab es ja damals nicht. In Vitrinen kann man schicke Uniformen aus seinem Militärdienst bewundern – Engels war „Einjährig-Freiwilliger“ in Berlin, schloss sich aber lieber den Junghegelianern an – aber auch Briefe an die Mutter.
Wie sich die Verhältnisse geändert haben
Viel kleinteiliges, Analoges, Assoziatives kann der Besucher aus dieser Zeit hinter Glas finden, das ist spannend und amüsant zugleich. Der Running Gag zwischendurch ist eigentlich immer Engels‘ Jugendfreund Johann Richard Seel, der Karikaturist des Vormärz wurde, eben auch Kind der Stadt und Sohn eines Zinngießers. Seine bösen Bilder lockern den zwangsläufigen Muff der vergangenen Jahrhunderte auf. Wundersam sein Bildnis vom Wuppertaler Dichterkreis (1859), köstlich seine Ikone des „deutschen Michel in der Gewalt der Zensur“ (1842).
Schon vor dem Eintreten hört man Schüsse und Hundegebell, der nächste Raum ist fahnenrot, das Gespenst schwirrt los. Endlich Revolution, oder doch nicht? Erstmal geht es um die Verhältnisse im Brechtschen Sinne: „Wer wollt auf Erden nicht ein Paradies? Doch die Verhältnisse, gestatten sie’s? Nein, sie gestatten’s eben nicht.“ (Dreigroschenoper) Also schauen wir auf die Bilder von Pfändungen armer Menschen (Leopold Bendix, 1847), auf rohe Eisenpfannen für schlechte Kartoffeln. Und wir sehen den Wucherer, der den letzten Pfennig aus den Menschen quetscht. Passend dazu eine echte Aktie vom Börsengang der Bayer AG 1881, die 1.000 Mark kostete – konnte sich also jeder leisten. Engels „Kritik zur Nationalökonomie“ von 1844 in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“ hatte den Kapitalismus zwar schon gegeißelt aber eben nicht aufgehalten. Irgendwann landete er dann in Cottonpolis Manchester mit seiner Koffertruhe. Die Arbeit am Kommunistischen Manifest wurde zu Ende gebracht, die erste Seite des Entwurfsmanuskriptes ist in Wuppertal im Original zu sehen. Die Sonderausstellung mit Klasse-Katalog (man findet auch Engels Taufkleid noch einmal!) ist eine schöne, bestens kuratierte Engels-Retro, auch um zu sehen, ob und wie sich die Verhältnisse geändert haben.
Friedrich Engels – Ein Gespenst geht um in Europa | bis 20.9. | Kunsthalle Wuppertal | 0202 563 67 30
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