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Szene aus „Pilgrimage“
Foto: Jules de Niverville

Horrible Innenwelten

07. November 2017

Internationale Tanz-Kurzfilme im Rex. Präsentiert vom Verein Tanzrauschen – Spezial 10/17

Dass Tanz und Film wunderbar zusammen passen, beweisen nicht nur Mainstreamfilme. 2011 widmete Wim Wenders der legendären Wuppertaler Choreografin Pina Bausch mit „Pina“ eine beeindruckende Tanzfilm-Dokumentation, und auch der Wuppertaler Verein Tanzrauschen hat sich ganz der Förderung der „Dance on screen“-Kultur verschrieben. Und so wundert es nicht, dass der Verein die Einladung von DesArts // DesCinés (DADC) aus der französischen Partnerstadt St. Étienne für ein gemeinsames internationales Projekt annahm: Das „mAPs – Migrating Artists Project“. Der Auftakt wurde am 2. November 2017 im Rex-Filmtheater Wuppertal mit einem öffentlichen Kurzfilm-Screening internationaler „Dance on screen“-Filme zum Thema Migration gefeiert, aus insgesamt sechs Ländern: Griechenland, Italien, Türkei, Finnland, Island und natürlich Frankreich. Wobei der Island-Beitrag eine isländisch-belgische Koproduktion ist.

Die Kurzfilme von einer Minute bis hin zu  rund 18 Minuten Länge sind nicht für mAPs neu erstellt worden, sondern bereits bestehende Produktionen aus früheren Projekten und Festivals der Partnerinstitutionen der sechs Länder. Das Screening war nur der erste Schritt, die nun mAPs-Partner zusammen zu bringen und der Öffentlichkeit vorzustellen. Tanzrauschen ist als siebter Partner und damit auch siebtes Land frisch an Bord. Der zweite Schritt war ein Workshop-Tag, an dem die Partner, FilmproduzentInnen und KünstlerInnen, gemeinsam Ideen für mAPs entwickelt haben, der dritte ein gemeinsamer Besuch des Institut français Düsseldorf am 4. November.

Schon das Kurzfilm-Screening sorgte für heiße Diskussionen, denn was gezeigt wurde, hatte es wahrlich in sich. Es ist beeindruckend, was die Verbindung von Tanz und Film ganz ohne Sprache für eine Wirkung und Ausdruckskraft hat, manchem Zuschauer war es auch zu viel. Nicht nur verließen einige während des Screenings den Kinosaal, man war sich auch unter den bis zum Schluss Gebliebenen ziemlich einig, dass das Gezeigte zum Teil kaum auszuhalten war. Dabei war die Spannbreite sehr vielfältig: Los ging es mit dem griechischen Beitrag „Inner Movers“, eine Videodokumentation des gleichnamigen Videodance-Projekts in Athen. Das Thema Migration ist grundsätzlich und vor allem angesichts der aktuellen Lage kein leichtes, Griechenland ist davon stark betroffen. Auch wenn einem schon hier Schauer über den Rücken liefen, vor allem als die ProtagonistInnen am Ende sich langsam auf einer Schiffsrampe gen Wasser bewegten, steigerte sich dieser Schauer im Verlauf des Abends drastisch.

Die zwei Einminüter aus Italien, „Please“ und „Sola“, entstammten einem Videowettbewerb, die bewiesen, dass man auch in dieser Kürze eine große Wirkung erzielen kann. So zeigte „Sola“ zwei nackte Menschen, die sich via Stop-Motion-Technik ruckartig und auf dem Bauch liegend durch die Wüste schoben – einer verschwand ins Ungewisse aus dem Bild, der andere blieb liegen und wurde vom Sand überdeckt. Doch beide hinterließen eine deutliche Spur. Hat das noch etwas mit Tanz zu tun? Kann man sich fragen oder auch das traurige Szenario fraglos auf sich wirken lassen.

Horrible Innenwelten, die sich um Einsamkeit und verlorene Liebe rankten, zeigte der finnische Beitrag „Objects in the Mirror are closer than they appear“. Schon allein das Bild, sich in einen Koffer voll Erde zu stellen, sagt viel. Tänzerisch ging es um Flamenco, eigentlich altbekannte Horrorelemente wie quietschende Türen und Risse im Boden wirkten unter den bedrohlich knallenden Flamenco-Steps in einer nahezu leeren und runtergekommenen Wohnung auf neue Weise wahrlich schaurig.

Auf die Spitze trieb es dann der isländisch-belgische Kurzfilm „Still More“, der verschiedenste Menschen in friedlichen Alltagssituationen im Freeze zeigte, die aus diesem Freeze durch Schüsse gerissen wurden, die man nur hörte. Sichtbar war nur die Reaktion der ProtagonistInnen: ziemlich realistisch wirkend zuckend zusammensacken, an Ort und Stelle liegen bleiben, Schnitt zur nächsten Situation. Nach der ersten Szene dieser Art ahnte man schon, dass es so weitergehen wird, und so war es dann auch. Mit dem Wissen, was kommen würde, war das Abwarten bis zum Schussszenario von Szene zu Szene immer schwerer auszuhalten, mit fast 16 Minuten Länge loteten die Macher hier wahrlich Grenzen aus. Nicht umsonst heißt der Kurzfilm im Untertitel „Most real death“.

Erholsamen und wirklich zu diesem Zeitpunkt notwendigen Balsam auf die Seele bot dann der französische DADC-Kurzfilm „Pilgrimage“ mit einer sich meditativ und optimistisch entwickelnden Gruppendynamik der ProtagonistInnen, die nicht nur tänzerisch, sondern auch mit Gesang unterstützt wurde, der aus wenigen einfachen für den deutschen Zuschauer unverständlichen Worten entstand. Wie man später erfuhr, wurde hier türkische Musik neu interpretiert. Den passenden Abschluss bildete der türkische Kurzfilm „Farewell“. Doch der war noch nicht zugleich auch das Ende des Abends, nach der dann folgenden Vorstellung der Partner mit Hintergründen zur jeweiligen Kurzfilm-Entstehung folgte die Möglichkeit, Feedback zu geben und Fragen zu stellen. Doch die Zuschauer hätten wohl erst eine Pause zum Sackenlassen gebraucht, das meinte auch eine 56-jährige Zuschauerin namens Heike.

Nicht nur war der Applaus nach dem Screening und während der Partnervorstellung verhalten, auch Fragen wollte zu diesem Zeitpunkt niemand stellen. Während Heike trotz Mitgenommenseins vom Gesehenen gespannt war, wie es mit mAPs weitergeht, ist für Brigitte (64) der isländisch-belgische Beitrag ein deutlicher Aufreger. Was will man dadurch bewirken? Bringt das etwas? Zeigen die kontroverse diskutierten Ballerspiele nicht schon, dass die mediale Dauer-Wiederholung solcher Szenarien abstumpfen lässt? Wie will man damit jemanden für das Thema Migration interessieren, der sich nicht sowieso schon damit auseinandersetzt? Das wären spannende Fragen für eine Diskussionsrunde nach einer Pause und verlagert ins Foyer des Rex gewesen. Silvia (35) ließ sich etwas weniger davon schocken: Sie hat eine klassische Tanzausbildung und fragte sich eher, ob das noch etwas mit Tanz zu tun hat. Ein solcher Blick sorgt vielleicht für einen gewissen emotionalen Abstand, mitgenommen hat es sie trotzdem. Überhaupt: Mitgenommen hat sicher jeder etwas an diesem Abend: Gefühle und Gedanken über eigene Grenzen und Grenzüberschreitungen. Damit haben die Kurzfilme ihr Ziel definitiv erreicht.

Stephanie Spichala

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