Es ist schon länger her, dass die fiktiven, formal ausgefeilten Stadtmodelle von Anne und Patrick Poirier hierzulande in einer Ausstellung gezeigt wurden. Während im Von der Heydt-Museum mit Terry Fox (1943-2008) ein früher Hauptvertreter der Performance- und der Videokunst vorgestellt wird, decken im Skulpturenpark Waldfrieden die 1942 geborenen Poiriers mit der „Spurensuche“ der 70er Jahre und der „Postmoderne“ der 80er Jahre weitere Kunststile der Gegenwartskunst ab. Und sie unterlaufen zugleich – ähnlich wie Terry Fox – die damit verbundenen Erwartungen. Selbst Günter Metken, der Theoretiker der „Spurensuche“ stellt für das französische Künstlerehepaar fest, dass es Idealzustände erfindet. „Nicht Ausgräber waren die Poiriers, sondern Ruinenbaumeister“, hat Metken zu ihrem Werk geschrieben (Mailand/Wien 1994). Tatsächlich haben die Poiriers als Berufsbezeichnungen zunächst Archäologe und Architekt angegeben. Das zentrale Thema ihres Werkes aus Collagen, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen ist die Erinnerung, genauer: die Mnemosyne – die kulturelle Erinnerung –, wie der Titel auch etlicher ihrer Hauptwerke lautet.
Ausgehend von ihren frühen Teilnahmen bei archäologischen Ausgrabungen haben Anne und Patrick Poirier, die seit ihrem Kunststudium zusammenarbeiten, zunächst u.a. Tableaux mit Pflanzen erstellt sowie monumentale Steinskulpturen einzelner antiker Architekturformen (bes. Säulen) geschaffen und Ausgrabungsstätten als atmosphärische, mehrere Meter große Modelle nachempfunden. Die Poiriers veranschaulichen da noch die Zerbrechlichkeit der Geschichte, im Besonderen: den Untergang der Kulturen, deren Überbleibsel sie hier, in den frühen Arbeiten, freilegen. Sie beziehen sich auf Sigmund Freud, der das Unterbewusstsein und die Erinnerung mit einer in Trümmern liegenden Stadt verglichen hat. Und sie fragen nach Archetypen. Im Laufe ihres Werkes visualisieren die Poiriers mehr und mehr die Schaffung von Ordnung im Chaos. Eine Metapher dafür ist die Bibliothek mit den Büchern als Speicher der privaten und kollektiven Erinnerung – sie wird auch künftig eine zentrale Rolle in ihrem Werk einnehmen. Sie ist etwa in das Architekturmodell mit der Außenform eines Ringes integriert, das nun auch in der Wuppertaler Ausstellung zu sehen ist. Im Blick durch Bullaugen entdeckt man einzelne Räume, Kammern, die selbst die Spuren der Vergänglichkeit aufweisen: Entstanden 1995, verstehen die Poiriers dieses Objekt als „Idealbau aus Museum und Bibliothek“. Und sie ergänzen: „Eine Art Ufo, das beim geringsten Anzeichen einer Katastrophe mit seiner Erinnerungsfracht beladen zu anderen Welten davonfliegen kann, um etwas von unserer gefährdeten Kultur zu retten.“
Schon davor, um 1990, sind die ersten Schaukästen von idealisierten Planstädten entstanden. Ganz in Weiß, unberührt und menschenleer sind sie in der Aufsicht zu sehen. Ihre elliptische Form, innerhalb der sich die Gebäude in symmetrischer Anlage wiederholen, soll an das Gehirn erinnern. Dazu besitzen die Gebäude klare Zuweisungen: Sie sind Modelle für das Erinnern, das Vergessen, das Bewusste und das Unbewusste, mit „dem Theater der Erinnerung, dem Theater des Vergessens und dem Amphitheater des Traumes. Um diesen Mittelpunkt ordneten sich Museen, Bibliotheken, Observatorien, Konservatorien“ (A+P Poirier). Diese Reise nach innen ist ebenso bilderreich wie sie an das Vorstellungsvermögen appelliert. Und dann ist sie ganz gegenwärtig: Die neue, auf einem Wollgrund entwickelte Arbeit „Alep“ (2015) spricht die Zerstörungen in Syrien an, ausgehend von der glanzvollen Geschichte dieses Landes. Und gewiss lassen die frühen weißen Anlagen mit ihren stereometrischen Körpern heute auch an Computer und Speicherchips denken. Nicht dass diese Referenz notwendig wäre, aber: umso besser.
„Anne und Patrick Poirier – Mnémosyne“ | 29.10.-8.1. | Skulpturenpark Waldfrieden | 47 89 81 20
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