Aus heutiger Sicht ist die Frage, ob eine Gemeinde oder Gesellschaft angesichts monströser monetärer Gewinnerwartung ihre humanitären Grundsätze aufgibt und im nun vogelfreien Raum Mord als Zahlungsmittel akzeptiert, eigentlich seit Jahrhunderten beantwortet. In Europa bringt dieser lukrative Mechanismus seit jeher einträglichen Gewinn für wenige. Postkolonialismus, Rassismus, Katholizismus, Neonationalismus: Die „-ismusse“ scheinen unendlich, unsere europäische Freiheit lebt eben von Ausbeutung und Unterdrückung Dritter bis hin zu deren Tod. Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt hat diese unheilige Vorgehensweise vor 65 Jahren in seinem Stück „Der Besuch der alten Dame“ auf die Gemeinde Güllen heruntergebrochen. Dort stellt die Milliardärin Claire Zachanassian, einst bei einer Vaterschaftsklage von der bestochenen Justiz der Stadt verhöhnt, die Integrität der Bürger auf die Probe. Betriebsmittel heimlich aufgekauft, hat sie die Gemeinde in den Ruin getrieben und verlangt nun für eine Milliarde Franken zur Wiederaufbauhilfe den Mord am ehemaligen Liebhaber III.
Die „tragische Komödie“ in drei Akten hat Nicolas Stemann vor knapp einem halben Jahr an ihrem Uraufführungsort, dem Schauspielhaus Zürich, neu interpretiert. Die außergewöhnliche Inszenierung wandert im Rahmen von „Transfer Zürich/Bochum“ nun ins Bochumer Schauspielhaus, wo dann wieder Patrycia Ziółkowska und Sebastian Rudolf auf einer ziemlich leeren Bühne sämtliche, also schlapp 30 Rollen spielen und dabei erstaunlicherweise nicht für dramaturgische Verwirrung sorgen. Verwirrung wird im Ruhrgebiet eher die Schweizer Elektrobeat-Ikone Camilla Sparksss (Barbara Lehnhoff) stiften (als Beispiel höre „Europe“, 2013 oder „Womanized“, 2019), die den zentralen Satz in Stemanns Inszenierung „This is what is left of Europe“ immer wieder von ihren Turntables in den Zuschauerraum durchsticht. Die Ordnung in Güllen hat sich derweil radikal auf den Kopf gestellt. Die Inszenierung fragt nicht nur nach Vergeltung und Gerechtigkeit, sondern geht auch der Frage nach, wie aus der Betroffenen eine Täterin wird. Nicht verpassen!
Der Besuch der alten Dame | R: Nicolas Stemann | Mi 2.3. 19.30 Uhr (P) | Schauspielhaus Bochum | www.schauspielhausbochum.de/
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Zeichenhafte Reduktion
NRW-Kunstpreis an Bühnenbildner Johannes Schütz verliehen – Theater in NRW 12/22
Lapidares Spiel
Theaterpreis Berlin 2020 – Theater in NRW 02/20
Zu etwas Neuem
„New Joy“ am Schauspielhaus Bochum – Tanz an der Ruhr 02/19
Alle sind gleich, manche sind gleicher
Wunsch und Realität bei Stadttheater und Freier Szene – Theater in NRW 06/18
Die eine kommt, die andere geht
In Neuss und Bochum wechseln die Intendantinnen – Theater in NRW 04/18
„Der Kasper hat sich von keiner Autorität unterkriegen lassen“
Fidena-Chefin Annette Dabs zum Jubiläum unter dem Motto „resist“ – Festival 04/18
Übergriffige Brüllaffen
Die MeToo-Debatte erreicht die Bühnen – Theater in NRW 03/18
Breit und hoch zugleich
Olaf Kröck wird neuer Leiter der Ruhrfestspiele – Theater in NRW 12/17
„Bochum ist nicht nur eine Stadt, sondern ein Zustand“
Lucas Gregorowicz über „Sommerfest“, Bochum und seine erste Jugendliebe – Roter Teppich 07/17
Schriller geht‘s nicht
„Monty Python‘s Spamalot“ und „Der Fluch von Königswinter“ auf Kölsch – Musical in NRW 02/16
Staubige Arena statt gruseliger Tunnel
Anselm Weber inszeniert Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ am Bochumer Schauspielhaus – Auftritt 06/15
Partizipation und Abwehrzauber
Theater als sozialaktivistischer Treibriemen – Theater in NRW 12/14
„Jede starke Komödie ist tragisch“
Maja Delinić über „Der Revisor“ am Schauspiel Wuppertal – Premiere 03/23
Manchmal geht die Sonne wieder auf
Azeret Koua inszeniert „Das Spiel ist aus“ im Autoscooter – Auftritt 02/23
Angst
Beobachtung eines Kritikers im Kindertheater – Bühne 02/23
Sie haben ein knallgelbes Gummiboot
„Vogelfrei“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 01/23
Krakatuk erst spät geknackt, Pirlipat dennoch gerettet
„Der Nussknacker“ am Opernhaus – Auftritt 12/22
Das bleibt, wenn die Masken fallen
„Die Wahrheiten“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 11/22
Wilde Wasserspiele
Tanztheater Wuppertal mit Pina Bauschs „Vollmond“ – Prolog 11/22
Abwasch im Kopf des Tyrannen
„Macbeth“ an der Wuppertaler Oper – Auftritt 10/22
Einmal einfach nur König sein
Marcus Lobbes inszeniert „Macbeth“ am Wuppertaler Opernhaus – Prolog 09/22
Vergessene Kapitel
„Revenants“ beim Favoriten Festival – Tanz 09/22
„Fabulieren, was möglich sein könnte“
Anne Mahlow über das Dortmunder Favoriten Festival – Premiere 08/22
Wenn Liebe zum Trauerspiel wird
„Stella“ am Theater am Engelsgarten – Auftritt 07/22
Inklusiver Szenenabend
„Rampenschau“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 06/22