„Die Mauer muss weg“, wurde 1989 in Deutschland skandiert. Mehr als 30 Jahre später gibt es auch in Wuppertal Probleme mit einer Mauer, die wohl wieder weg muss – freilich mit etwas geringerer weltpolitischer Bedeutung: Die großflächige Mauerfassade am neuen Hauptbahnhof „hätte in der hier vorliegenden Form nicht errichtet werden dürfen.“ Das besagt ein Gutachten im Auftrag der Stadt, welches im Mai veröffentlicht wurde.
Thomas Lange, ein Experte für Natursteine, ist von dieser Erkenntnis wenig überrascht, schließlich hatte er schon Sicherheitsbedenken, als die Steine angeliefert wurden: „Es stand damals in der Zeitung, dass Steine aus Nürnberg besorgt wurden, die wunderbar zum alten Bahnhofsgebäude passen sollen. Da mich das interessiert hat, bin ich privat hin, habe mir die Steine angeguckt und gesehen, dass dort ein Jurakalkstein liegt“, erinnert sich der Betreiber eines Steinbruchs in Sprockhövel. Sein Verdacht: „Es ist der falsche Stein, weil er Eigenschaften hat, die nicht zu Wuppertal passen: Er ist nicht säurefest und nicht frostsicher. Der viele Regen und die wechselnden Temperaturen tun den Steinen nicht gut.“ Außerdem sei mit den Steinen unsachgemäß umgegangen worden: „Es wurde falsch gesägt und eingebaut, um die natürliche Kruste außen zu haben.“ Problematisch sei dies aufgrund der Struktur des Kalksteines, der von sogenannten Stylolithen durchzogen ist. Diese Lager seien dann so eingebaut worden, dass sie jeweils nach oben zeigen. Und durch diese wiederum könne Regenwasser in die Spalten eindringen: „Der Stein saugt sich voll und, wenn dann Frost ist, öffnen sich irgendwann mal diese Lager und fallen ab.“
Lange schilderte seine Bedenken in einer E-Mail an Oberbürgermeister Andreas Mucke. Obwohl er überzeugt ist, dass sich viele Wichtigtuer bei der Stadt melden, hat er kein Verständnis dafür, dass es auf die Mail nie eine Antwort gab: „So viel Ignoranz von der Stadt kann doch nicht wahr sein. Es gibt erst dann ein Gejammer, wenn jemandem ein Stein auf den Kopf fällt. Und die Frage ist nicht ob, sondern nur wann.“ Später hat sich Lange in einer weiteren Mail mit Fotos an die zuständige Bauaufsicht der Stadt gewendet. Dort verwies man auf ein TÜV-Prüfzeugnis, das die Eignung der Steine bescheinigte. „Damit hat sich die Stadt zufrieden gegeben und meine Hinweise nicht überprüft“, ärgert sich Lange. Er meint: „Man kann nicht etwas in Auftrag geben, ohne es zu kontrollieren.“
So wurde erst im Oktober 2019, nachdem die Sicherheitsfrage öffentlich geworden war, das eingangs erwähnte städtische Gutachten in Auftrag gegeben. Im Abschlussbericht wurde nun Langes Skepsis bestätigt: Dort heißt es: „Ständig lassen sich vor / unterhalb der Fassade abgeplatzte Gesteinsscherben auffinden“ und „Langfristig gesehen wird diese Fassade immer schadensträchtig bleiben, sie bedarf einer ganz besonderen, permanenten Überwachung“. Ende Juni erklärte Baudezernent Frank Meyer, die Fassade solle schnellstmöglich durch ein provisorisches Netz gesichert werden. Außerdem bezifferte er die voraussichtlichen Kosten für Rück- und Neubau auf sechs bis sieben Millionen Euro. Die Mängel seien jedoch noch rechtzeitig, innerhalb der Gewährleistungsfrist, angezeigt worden. Wer aber am Ende die Verantwortung tragen wird – Architekt, Steinbruch oder die Arbeitsgemeinschaft der ausführenden Baufirmen – ist noch unklar und wird gerichtlich geklärt werden müssen. Thomas Lange glaubt: „Man hätte sich Vieles ersparen können“ und findet, dass die Politik besser häufiger auf die Stimmen der Bürger hören sollte. Das hatte ja schon 1989 geklappt.
Schlecht beraten - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
www.lobbycontrol.de | Die NGO aus Köln benennt konsequent Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik.
berateraffaere.de | Der Journalist Patrick Pehl hat einen Podcast zur Berateraffäre ins Leben gerufen.
www.finanzwende.de | Der Verein wirbt für ein stabiles Finanzsystem, Verbraucher:innenschutz und finanzpolitische Transparenz.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Auf Kosten der Allgemeinheit
Intro – Schlecht beraten
„Scheitern der Führungsebene“
Grünen-Politikerin Katja Keul zur Berateraffäre im Verteidigungsministerium
Demokratie heißt Wahlfreiheit. Kapitalismus auch
Wenn Zukunftsvisionen sauer aufstoßen – Glosse
Viren beschleunigen Verkehrswende
Corona-bedingte Eindämmung des Verbrennungsmotors? – Europa-Vorbild: Belgien
Ohne Folgen?
Die Konsequenzen aus der Berateraffäre im Verteidigungsministerium
Wer bin ich?
Teil 1: Lokale Initiativen – Johannes Wilbert begleitet Menschen bei ihrer Suche nach dem passenden Beruf
Wissen über KI fördern
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Kölner Wissenschaftsrunde
Dein Freund, das Handy
Teil 3: Lokale Initiativen – Forschung zur Smartphone-Nutzung in Beziehungen an der Universität Witten/Herdecke
Hinschauen und handeln
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Wuppertaler Intitiative engagiert sich gegen Rechtsextremismus und Frauenfeindlichkeit
Vor Ort Großes bewirken
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Verein Köln Agenda und die Zivilgesellschaft
Forschung von unten
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Arbeitsgruppe Region West der Plattform Bürger schaffen Wissen
Hass gegen die Presse
Journalistin Corinna Blümel (KJV) über Empörungskultur – Teil 2: Lokale Initiativen
Hilfspakete an Europas Außengrenzen
Die Dortmunder Flüchtlingsinitiative Grenzenlose Wärme – Teil 3: Lokale Initiativen
Menschen bleiben arm
Forschung über Armut und Armutshilfe an der Uni Wuppertal – Teil 1: Lokale Initiativen
Geld macht Politik
Das Finanzwissenschaftliche Forschungsinstitut der Universität zu Köln (FiFo) – Teil 2: Lokale Initiativen
Gedämpfte Mieten, keine Aktionäre
Der Gemeinnützige Wohnungsverein zu Bochum (GWV) – Teil 3: Lokale Initiativen
Das Tal wird digital
Wuppertal unterwegs zur Smart City – Teil 1: Lokale Initiativen
Wieder selbstbestimmt leben
Kölns interkulturelles Zentrum Zurück in die Zukunft e.V. – Teil 2: Lokale Initiativen
Protest und Marketing
Florian Deckers erforscht Graffiti im öffentlichen Raum – Teil 3: Lokale Initiativen
Angstfreie Radwege
Aus der Arbeit von Fahrradstadt Wuppertal e.V. – Teil 1: Lokale Initiativen
Für die Rechte der Fußgänger
Kölns Initiative Fuss e.V. – Teil 2: Lokale Initiativen
ÖPNV für alle Menschen
Die Bochumer Initiative Stadt für Alle – Teil 3: Lokale Initiativen
Was man aus dem Alter macht
Die ZWAR-Gruppen der Wuppertaler AWO – Teil 1: Lokale Initiativen
Eigene Bedürfnisse kennen und ausdrücken
Kölner Verein Fair.Stärken hilft Kindern – Teil 2: Lokale Initiativen
Demokratische Bildungsbürger
Die Freie Universität Oberhausen – Teil 3: Lokale Initiativen