Tristesse strahlt der Bahnhofsvorplatz von Vohwinkel aus. Schneeregen tropft in die großen Pfützen vor dem Gehweg. Alle angrenzenden Ladenlokale stehen leer. Die Schaufenster sind notdürftig mit Packpapier verklebt. Lenkt der Besucher seine Schritte unter die Eisenbahnbrücke und dann links auf die Kaiserstraße Richtung Postamt, verstärkt sich sogar noch der Eindruck. Kaum ein Geschäft ist in den ehemals herrschaftlichen Häusern aus der Gründerzeit noch geöffnet. Wer einen Endzeitfilm drehen möchte, könnte hier viele geeignete Kulissen finden. Wie aber mag es denen gehen, die hier wohnen? Der Stadtteil hat in den letzten Wochen mehrere Male für Schlagzeilen gesorgt. Von den Jugendlichen, die mit Pfefferspray die Premiere des Films „Das braune Chamäleon“ vom Medienprojekt Wuppertal im Cinemaxx verhindern wollten, kamen zwei junge Männer aus Vohwinkel. Und ein anderer junger Mann, in der Lokalpresse, aber auch in überregionalen Medien Bünyamin E. genannt, stammt ebenfalls aus dem westlichsten Teil Wuppertals. Der junge Deutsche türkischer Herkunft starb bei einem Raketenangriff der amerikanischen Streitkräfte im fernen Pakistan. Das Geschoss, von einer unbemannten Drohne abgefeuert, sollte islamistische Terroristen treffen. Ob Bünyamin E. in einem Terrorcamp ausgebildet wurde, bereits Terrorist war, und ob die Tötung mit internationalem Recht vereinbar ist, wird zur Zeit von der Bundesanwaltschaft geprüft, berichtete „die tageszeitung“ aus Berlin.
Zwei Zeitungsmeldungen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, werfen doch ein erschreckendes Schlaglicht auf den Stadtteil. Bricht in dem einst wohlhabenden Vohwinkel die Gesellschaft auseinander? Junge Männer in Springerstiefeln treffen sich regelmäßig auf der Brücke Bahnstraße. Die rechtsextreme NPD verteilt Flugblätter, in denen vor Islamisten in der Schabab Annur-Moschee am Hammerstein gewarnt wird.
Ist Schweigen und Tabuisieren das Mittel der Wahl?
Der Integrationsbeauftragte der Stadtverwaltung möchte sich zurzeit nicht öffentlich zu den Sachverhalten äußern. Man will nicht noch mehr Öl ins Feuer schütten, wird von Seiten des Rathauses erklärt. Publicity würde die jungen Rechtsradikalen eher noch ermutigen.
Aber ist Schweigen und Tabuisieren das Mittel der Wahl? Im Fall des Bünyamin E. bleibt vieles im Dunkeln. Wie der junge Mann, dem sein ehemaliger Arbeitgeber in Velbert Zuverlässigkeit bescheinigte, zum Islamismus gelangte, bleibt unklar. Nach der Hauptschule in Vohwinkel besuchte der 20Jährige die Abendrealschule. Im Sommer sei er dann nach Pakistan gereist. Man stelle sich vor, ein Wuppertaler ohne Migrationshintergrund würde bei einer kriegerischen Auseinandersetzung getötet. Wie sähe da die Reaktion der Öffentlichkeit aus? Die Geschichte eines jungen deutschen Mannes türkischer Abstammung, der bei einem Raketenbeschuss der US-Streitkräfte ums Leben kam, interessierte weder die Westdeutsche Zeitung noch den WDR besonders. Hat schon jemand von offizieller Seite den Eltern des Getöteten sein Mitgefühl ausgedrückt? Der Umgang mit islamistischem Terrorismus erinnert an die bleierne Zeit der 1970er Jahre. Die Terroristen der Roten Armee Fraktion wurden damals ihrer menschlichen Identität beraubt, um als Feindbild oder Idol funktionieren zu können.
Ein tolerantes Miteinander wird nicht allein von radikalen Gruppen bedroht
Zumindest zur Schärfung des Feindbildes funktioniert die Angst vor dem Terror auch heute. Nicht nur die NPD in Wuppertal macht Stimmung gegen Menschen islamischen Glaubens. „Herr Sarrazin ist für mich einer der wenigen Aufrechten in einer gebückten Politikkultur“, erklärte im August der Vorsitzende der Wuppertaler Jungen Union Markus Stanzenbach. Zu jener Zeit hatte der ehemalige Bundesbanker seine irrsinnige These über die genetischen Ursachen von mangelndem Arbeitswillen bei muslimisch geprägten Ethnien noch nicht relativiert. Inzwischen erscheint sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ in einer etwas entschärften Version.
Ein tolerantes Miteinander wird nicht allein von radikalen Gruppen bedroht. Egal ob die jungen Männer mit Springerstiefeln oder mit Turban und langen Bärten ausgestattet sind, sie erscheinen oft nur als Ausdruck dessen, was in der sogenannten Mitte der Gesellschaft gärt. Viele Menschen muslimischen Glaubens fühlen sich nach den Terrorwarnungen der vergangenen Wochen unter Generalverdacht gesetzt. Frauen mit Kopftuch und Hochschulabschluss sehen sich unter Rechtfertigungsdruck. Die Bundesfamilienministerin wiederum klagt über „Deutschenfeindlichkeit“ auf deutschen Schulhöfen. Laut aktuellen Umfragen wirken die Aussagen von Thilo Sarrazin, Kristina Schröder und anderen. Die Intoleranz nimmt in der Mehrheitsgesellschaft zu. Dazu passt die Diskussion in der Bezirksvertretung Vohwinkel. Dort streitet man um einen Straßennamen. Statt nach einem Kriegsverbrecher soll der von der Gräfrather Straße abzweigende Weg nach einer katholischen Widerstandskämpferin jüdischer Herkunft benannt werden. CDU und FDP stimmten gegen den Antrag. Und Anwohner wollen gegen die Umbenennung sogar klagen.
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