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Bang, bang, my baby shot me down
Foto: Uwe Schinkel

Eine Hölle in den erinnerten Leben

28. Juni 2018

Martin Kindervater inszeniert „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams – Auftritt 07/18

Ein blauer Container ist die Welt, in der die Wingfields leben müssen. Aus der Enge der kargen Nachkriegsjahre ist längst die teure Enge der Mietwucherer geworden. Nur gut, dass Batman über diese Familie im amerikanischen Süden wacht, deren Erinnerungsfestplatten in diesem Metall-Ungetüm gefangen sind. Genau dieses „Spiel der Erinnerungen“, von Tennesee Williams selbst in Anmerkungen zur Aufführung von „Die Glasmenagerie“ intoniert, quillt nun, nachdem Konstantin Rickert als fast perfekter Batman seinen Intro-Auftritt in düsterer Originalstimme hatte, als kurzer Ausschnitt des Untergangs aus dem Container (clevere Bühne: Anne Manss) heraus.

Hollywood als Sehnsuchtsort
Der sentimentale Ritt durch die Wirren des Lebens beginnt. „Nimm doch mal die Maske ab.“ Mit diesem einfachen Satz zerstört Mutter Wingfield die dunkle Atmosphäre von Metropolis. Die Transportbox ist aufgeklappt, ein paar Requisiten bauen ein karges Wohnzimmer, wo sie versucht, ihre Kinder in den Strom des amerikanischen Räderwerks einzuschleusen. Ihr Mann „der Scheißkerl“ hat die Familie längst verlassen. Tagträume mögen die Weißen Amerikaner im Süden nicht, Autor Williams hat das am eigenen Leibe erfahren und Tom, der Sohn des Hauses und Versorger der Familie, scheint auf dem gleichen Schienenstrang gefangen wie sein Vater. Auch er will raus aus der genormten Box für standardisiertes Allerlei. Mutter Amanda versucht verzweifelt den Niedergang aufzuhalten. Doch Ex-Batman Tom geht Abend für Abend ins Kino. Doch Hollywoods Scheinwelt als Sehnsuchtsort funktioniert nicht.

Die zentrale Figur, um die sich das Weltall und der blaue Container drehen, ist Lena Voigt als Laura. Ihr Schicksal wird zum Schicksal für alle, die hier auftreten, um die Geschichte zu erzählen, und diese Laura hat eine besondere Aura. Kindervater lässt die Art ihrer Behinderung nebulös. Klar, ihre Beine arbeiten nicht ganz korrekt, aber geistig behindert wirkt sie nicht – ihre Traumwelt ist die kleine Glasfigurensammlung, die in einem blauen Miniatur-Container steckt. Die Realität erschreckt sie, wohl auch weil niemand auf ihre Bedürfnisse eingeht. Bang, bang he shot me down, die Stimmung im alten Hit von Cher (Sonny Bono hat den 1966 geschrieben) bringt ihr ganzes Wesen auf den Punkt, während Bruder Tom als Braveheart – und immer mit passender Filmmusik – dazu vergattert wird, endliche einen Ehemann für Laura herbeizuschaffen. Die Inszenierung strukturiert mit Hollywood die einzelnen Phasen und Blickwinkel auf das Desaster, die Drehbühne bringt zusätzliche Bewegung – alles ist bunt, komprimiert, großartig zu verfolgen. Dazu gibt es in der blauen Kiste immer was zu entdecken. Ein altes Röhrenradio, ein Kinoplakat mit Ronald Coleman, aber auch eine Campingleuchte und eine Taucherglocke und halb versteckt Requisiten, die noch zum Einsatz kommen müssen.

Die Geschichte wird rund, wenn Tom seinen Arbeitskollegen Jim O´Connor zum Essen einlädt, ohne zu ahnen, dass der die heimliche Liebe von Laura auf der Highschool war. Als schwule Cowboys aus „Brokeback Mountain“ verabreden sie sich, als Besatzungsmitglied der alten Enterprise wird Jim Laura das Herz brechen.

Vom Winde verweht
Doch so weit ist es noch nicht: Julia Wolff kriegt noch einen glänzenden Auftritt als Scarlett O´Hara. Als Mutter fährt sie eben alles auf, was man benötigt, wenn man einen jungen Mann bezirzen will – da darf nicht einmal die Discokugel fehlen. Glück und Erfolg für die Kinder, das ist ihr eigentlicher Antrieb; sie fürchtet sich vor der Welt da draußen. Und anfangs sieht ja auch alles gut aus: Es wird zärtlich, Jim zeigt Verständnis, aber auch Analysefähigkeiten. Laura blüht förmlich auf – bis Jim die Glasmenagerie unabsichtlich zerstört. Die Fantasie wird gnadenlos dekonstruiert, das geliebte Einhorn zum Freak. Jim hat Verlobte und andere Pläne. Scarlett O´Hara muss verzweifeln. Tom verschwindet wie sein Vater. Die Regie badet sich nicht im unabwendbaren Untergang, sie schaltet das Licht aus. Große Gefühle, großer Beifall.

Die Glasmenagerie – Ein Spiel der Erinnerungen | Sa 30.6., Fr. 6.7., Sa 7.7. 19.30 Uhr | Theater am Engelsgarten, Wuppertal | www.schauspiel-wuppertal.de

Zur Person
Regisseur Martin Kindervater (* 1984) studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Japanologie in München, Köln und Tokio. Zuletzt waren seine Inszenierung von Dawn Kings „Foxfinder“ am Theater Oberhausen und seine Adaption des Romans „Warten auf die Barbaren“ von J.M. Coetzee in Würzburg zu sehen.

PETER ORTMANN

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