Erst kamen die Touristen wegen des anarchistischen Charmes von Exarchia, dann die Kapitalinvestoren, die die Touristenströme zu barer Münze machen wollen. Dabei steht ihnen der Staat mit seinem Gewaltmonopol helfend zur Seite, während die eingesessene Bevölkerung verdrängt wird.
Lange war der beißende Geruch von Tränengas charakteristisch. Mittlerweile herrscht das Geräusch von Rollkoffern auf Gehwegplatten vor. Finden in Wohnungen Bauarbeiten statt, kann man sich fast sicher sein, dass wieder ein Alteingesessener seine Wohnung verloren hat, damit ein neues Touristenappartement entstehen kann. Es mutet wie ein kapitalistischer Treppenwitz an, dass die Touristen von jenem alternativen Flair des Stadtteils angezogen werden, der von den in ihrem Schlepptau über das Viertel herfallenden internationalen Investoren zerstört wird. Exarchia hat eine lange Geschichte politischer Kämpfe. Traditionell wohnen hier Studenten, Künstler und Intellektuelle. Das Viertel ist bekannt als Hochburg und Symbol des Widerstands während der Besatzung durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg und wiederum beim „Polytechnikum-Aufstand“ im Jahr 1973 — den die vom Westen gestützte Militärjunta der Obristen blutig zusammenschießen ließ.
Tränengas und Rollkoffer
Ein neuer rebellischer Schub folgte im Jahr 2008, nachdem am 6. Dezember der 15-jährige Alexis Grigoropoulos von einem Polizisten ermordet wurde. In Exarchia hatte das zur Folge, die Organisierung des Viertels selbst in die Hand zu nehmen, auf den Staat konnten sich die Bewohner nicht verlassen. Hausbesetzungen und basisdemokratische Nachbarschaftstreffen prägen den Stadtteil bis heute, und oft war es Ausgangspunkt von Protesten gegen die Troika — jenem Dreigespann aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission, das infolge der sogenannten Schuldenkrise dem Land eine brutale Sparpolitik auferlegte, die bis heute für viele Griechen den Ruin bedeutet.
Der Konflikt zeigt deutlich, dass die Kapitalbesitzer kein Interesse an Experimenten hinsichtlich alternativer, basisdemokratischer und/oder gar antikapitalistischer Lebensformen haben. Im Gegenteil: Wer unfassbar reich ist und sich und seine Existenz dadurch verzwergt, allein in der Jagd nach noch größerer Rendite einen Lebenssinn zu sehen, muss in jeder davon abweichenden Lebensform eine Gefahr erkennen. Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis von der konservativen „Nea Demokratia“ scheint derzeit fest im Sattel zu sitzen, trotz allerhand Skandale, beispielsweise illegaler, gegen Politiker und Journalisten gerichteter Abhörmaßnahmen. Mit seinem Regierungsantritt 2019 machte Mitsotakis sich daran, eines seiner Wahlversprechen umzusetzen. Im Wahlkampf hatte der Politiker wiederholt erklärt, mit Exarchia und den dortigen „Anarchisten aufzuräumen“ — auch um seine teils rechtsradikale Klientel zu bedienen.
Rechtsradikale Klientel
Seither gehen die Aufwertungsstrategie der Kapitalinvestoren und die Aufstandsbekämpfungsstrategie der Rechtsregierung Hand in Hand. Derweil steigen Preise und Mieten in Exarchia. Dazu tragen ein angespannter Arbeitsmarkt und die neoliberale Transformation der Gesellschaft im Nachgang der Finanzkrise von 2008 bei. Immer mehr Menschen müssen sich mit mehreren unterbezahlten Jobs über Wasser halten. Die jetzige Inflations- und Energiekrise hat diese Situation nochmals drastisch zugespitzt. Auch wenn der monatliche Mindestlohn im April um 50 Euro erhöht wurde, liegt er jetzt gerade einmal bei 713 Euro — und das bei Lebenshaltungskosten, vergleichbar denen in der BRD.
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